Ich schreib dir morgen wieder
mindestens einem Monat nicht mehr gefühlt. Auf einmal hatte sich etwas in mir wieder geöffnet. Nicht mal eine Minute später hörte ich den Bus auch schon zurückkommen. Er hielt vor dem Haus, und ich öffnete die Tür. Mit einem breiten Lächeln stieg der Typ aus. Als er aufschaute, trafen sich unsere Blicke, und er schüttelte den Kopf.
»Na, sind die Kilsaneys nicht zu Hause?«, fragte ich.
Er lachte und kam auf mich zu. Zum Glück war er nicht sauer, sondern amüsiert. »Die wollten anscheinend keine Bücher, denn zusammen mit dem ersten Stock, den meisten Wänden und dem Dach hat sich auch das Bücherregal verabschiedet.«
Ich kicherte.
»Sehr lustig, Miss Goodwin.«
»Würdest du bitte
Ms
sagen? Danke sehr.«
»Ich bin übrigens Marcus«, stellte er sich vor, streckte mir die Hand hin, und ich schüttelte sie.
»Tamara.«
»Hübscher Name«, sagte er leise. Dann lehnte er sich wieder an die Veranda. »Also, im Ernst, weißt du, wo dieser Sir Ignatius Power von den Sisters of Mercy wohnt?«
»Moment, lass mich das mal anschauen.« Ich nahm ihm das Klemmbrett aus der Hand. »Das heißt nicht ›Sir‹. ›Sr‹ steht für ›Schwester‹«, sagte ich langsam. »Dummi«, fügte ich hinzu und klopfte ihm mit dem Klemmbrett auf den Kopf. »Dein Sir Ignatius ist eine Nonne.« Also doch kein Transvestit.
»Oh.« Wieder begann er zu lachen und packte das andere Ende des Klemmbretts. Aber ich hielt meine Seite fest. Er zog stärker und zog mich so auf die Veranda heraus. Aus der Nähe war er noch süßer. »Also, bist du das, Schwester?«, fragte er. »Hat Gott dich gerufen?«
»Ach, mich ruft man höchstens zum Abendessen.«
Er lachte. »Und wer ist diese Schwester?«
Ich zuckte die Achseln.
»Du
willst
, dass ich mich verirre, stimmt’s?«
»Na ja, ich bin auch erst gestern hier angekommen und wahrscheinlich genauso desorientiert wie du.«
Als ich das sagte, lächelte ich nicht mehr, und er lächelte auch nicht zurück. Er kapierte offenbar genau, was ich meinte.
»Hmm, ich hoffe echt, dass das nicht stimmt – dir zuliebe.« Er schaute zum Haus hinauf. »Wohnst du hier?«
Ich zuckte unverbindlich die Achseln.
»Du weißt nicht mal, wo du
wohnst
?«
»Du bist ein Fremder, der in einem Bus voller Bücher rumfährt. Glaubst du, ich verrate dir einfach so, wo ich wohne? Von solchen Typen hab ich schon oft genug gehört«, entgegnete ich, während ich auf den Bus zuging.
»Ach ja?« Er folgte mir.
»Es gab mal einen Kerl wie du, der die Kinder mit Lollies in seinen Bus gelockt hat. Und wenn sie drin waren, hat er die Tür verriegelt und ist mit ihnen weggefahren.«
»Oh, ich weiß, wen du meinst«, antwortete er, und seine Augen funkelten. »Lange fettige schwarze Haare, große Nase, blasses Gesicht, ist immer in engen Hosen rumgesprungen und hat viel gesungen. Hatte er nicht auch eine Vorliebe für Spielzeugkisten?«
»Ja, genau den meine ich. Ist das ein Freund von dir?«
»Hier.« Er kramte in seiner Jackentasche und zog seinen Ausweis heraus. »Du hast recht, den hätte ich dir gleich zeigen sollen. Das hier ist eine öffentliche Bibliothek, mit Lizenz und allem Drum und Dran. Ganz offiziell. Also kann ich dir versprechen, dass ich dich nicht reinlocke und entführe.«
Vielleicht konnte ich ihn bei Gelegenheit darum bitten. Neugierig studierte ich den Ausweis. »Marcus Sandhurst?«
»Ja, der bin ich. Möchtest du dir die Bücher anschauen?«, fragte er und machte eine Handbewegung zu seinem Bus. »Ihr Wagen wartet, Madame.«
Ich sah mich um. Keine Menschenseele, auch keine Spur von Mum. Der Bungalow, in dem Rosaleen verschwunden war, erschien wie ausgestorben. Da ich nichts zu verlieren hatte, ging ich an Bord, und Marcus sang »Children« mit der Stimme des Kinderfängers aus
Tschitti Tschitti Bäng Bäng
und lachte dreckig. Ich lachte ebenfalls.
Drinnen waren die Wände mit Hunderten von Büchern gesäumt, nach verschiedenen Kategorien eingeteilt. Nachdenklich fuhr ich mit dem Finger über die Buchrücken, ohne die Titel wirklich zu lesen. Ich war noch ein bisschen auf der Hut, weil ich mit einem fremden Mann allein in diesem Bus war. Wahrscheinlich spürte Marcus meine Vorsicht, denn er trat gleich ein paar Schritte zurück, ließ mir Raum und stellte sich einfach neben die offene Tür.
»Und was ist dein Lieblingsbuch?«, fragte ich.
»Äh …
Scarface
.«
»Das ist doch ein Film.«
»Aber der Film basiert auf einem Buch«, entgegnete er.
»Stimmt doch gar nicht. Also, was
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