Ich schreib dir morgen wieder
ob Mum auch geahnt hat, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Vielleicht schon, aber sie hat nie etwas gesagt. Wenn sie tatsächlich nichts mitbekommen hat, dann war ich wohl die Einzige. Ich hätte etwas sagen sollen. Noch besser – ich hätte etwas tun sollen, um ihn von seinem Vorhaben abzubringen.
Es tut mir leid, Dad.
Was wäre, wenn, was wäre, wenn … Was wäre, wenn wir wüssten, was uns morgen bringt? Würden wir dann alles besser machen? Könnten wir das überhaupt?
Kapitel 10
Die Himmelsleiter
Am nächsten Morgen beschloss ich, mit Mum in ihrem Zimmer zu frühstücken. Rosaleen schien davon sehr irritiert zu sein. Sie hing endlos lange im Zimmer herum, schob Möbel zurecht, deckte für uns den Tisch am Fenster, arrangierte die Vorhänge, öffnete das Fenster, schob es ein Stück zu, sperrte es wieder ganz auf, erkundigte sich, ob es zog.
»Rosaleen, bitte«, sagte ich möglichst sanft.
»Ja, Kind«, antwortete sie, während sie das Bett aufschüttelte, wie wild auf die Kissen einschlug und die Decken so akkurat unter die Matratze stopfte, dass ich nicht überrascht gewesen wäre, wenn sie die Laken, bevor sie sie drüberklappte, auch noch abgeleckt und zugeklebt hätte wie einen Briefumschlag.
»Du musst das nicht machen, ich erledige es gleich nach dem Frühstück«, sagte ich. »Geh ruhig nach unten zu Arthur. Er möchte bestimmt auch was von dir haben, ehe er zur Arbeit muss.«
»Sein Lunch steht schon fix und fertig auf der Anrichte – er weiß, wo.« Und schon ging es weiter mit Schütteln und Glattstreichen, und wenn etwas nicht genau richtig gelang, fing sie noch mal von vorn an.
»Rosaleen«, wiederholte ich, immer noch ziemlich sanft.
Widerwillig sah sie mich an, und als unsere Blicke sich trafen, merkte sie, dass ich sie durchschaut hatte. Aber sie starrte
mich einfach weiter an, eine stumme Herausforderung auszusprechen, was ich wollte. Vermutlich traute sie es mir nicht zu.
Ich schluckte.
»Wenn es dir nichts ausmacht, möchte ich gern eine Weile bei Mum bleiben. Allein, bitte.« Da, ich hatte es gesagt. Die erwachsene Tamara hatte Stellung bezogen. Doch meine höfliche Bitte wurde mit dem typischen beleidigten Gesichtsausdruck quittiert, zögernd lockerte sich der Griff um das Kissen, das sie gerade bearbeitete, schlaff sank es aufs Bett herab, gefolgt von einem geflüsterten »Na gut«.
Aber ich hatte kein schlechtes Gewissen.
Endlich verließ Rosaleen das Zimmer. Ich blieb eine Weile schweigend sitzen. Da ich die Dielen auf dem Treppenabsatz nicht knarren hörte, wusste ich, dass sie noch vor der Tür stand. Sie lauschte, wachte, beschützte oder sperrte uns ein – ich war mir nicht sicher, worum es ihr ging. Wovor hatte sie Angst?
Statt mich anzustrengen, Mum zum Sprechen zu bringen, wie ich es den ganzen letzten Monat getan hatte, beschloss ich, ihr Schweigen nicht mehr zu bekämpfen, sondern lieber entspannt neben ihr in der Stille zu sitzen, die sie irgendwie zu trösten schien. Gelegentlich gab ich ihr ein Stück Obst in die Hand, das sie nahm und daran herumknabberte. Ich beobachtete ihr Gesicht. Sie sah ganz verzückt aus, als betrachte sie draußen im Garten eine große Leinwand, auf der sich etwas abspielte, was außer ihr niemand sehen konnte. Wie in einem Gespräch hoben und senkten sich ihre Augenbrauen, und ihre Lippen kräuselten sich kokett, als erinnere sie sich an ein Geheimnis, das sie nicht preisgeben wollte. In ihrem Gesicht verbargen sich Millionen von Geheimnissen.
Als ich fand, dass ich lange genug mit ihr zusammen gewesen war, küsste ich sie auf die Stirn und verließ das Zimmer. Das Tagebuch, das ich vorher stolz an die Brust gedrückt mit mir herumgeschleppt hatte, war inzwischen sicher unter meinem Bett versteckt, zum einen, weil niemand etwas davon wissen sollte, zum anderen, weil es mir zugegebenermaßen ein wenig peinlich war. In meinem Freundeskreis führte niemand ein Tagebuch. Wir schrieben einander ja auch keine Briefe, wir benutzten Twitter oder Facebook, posteten Fotos von unseren Urlauben, unseren Partys oder aus Umkleidekabinen, damit die anderen ihre Meinung zu den anprobierten Klamotten abgeben konnten. Außerdem schickten wir natürlich ständig SMS und E-Mails mit dem neuesten Tratsch und leiteten lustige Mails weiter, aber letztlich blieb alles oberflächlich. Wir tauschten uns vorwiegend über Dinge aus, die man sehen und anfassen konnte, nichts Tiefergehendes. Nichts, was mit Gefühlen zu tun hatte.
Ein Tagebuch wäre
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