Ich schreib dir morgen wieder
eher etwas für Fiona gewesen – das Mädchen aus unserer Klasse, mit dem niemand redete. Außer Sabrina natürlich, unserer anderen Außenseiterin, die wegen ihrer Migräne öfter fehlte, als sie da war. Fiona suchte sich gern ein ruhiges Plätzchen, wo sie allein und ungestört war, eine Ecke im Klassenzimmer, wenn der Lehrer nicht da war, oder in der Mittagspause eine schattige Stelle unter einem Baum irgendwo auf dem Schulgelände, wo sie die Nase in ein Buch steckte oder etwas in ein Heft kritzelte. Ich hatte sie oft ausgelacht. Aber der Witz ging ganz eindeutig auf meine Kosten. Ich hatte keine Ahnung, was sie da alles aufschrieb.
Es gab eigentlich nur einen Ort, an dem ich Ruhe hatte und mich dem Tagebuch widmen konnte. Kurz entschlossen zog ich das Buch unter dem Bett hervor, rannte die knarrende Treppe hinunter und rief im Vorbeiflitzen: »Rosaleen, ich geh mal ein bisschen raus …!« Doch als ich mit meinen Flipflops von der letzten Stufe absprang und mit elefantenartiger Anmut auf dem Boden landete, stand Rosaleen plötzlich vor mir.
»Himmel, hast du mich aber erschreckt!«, rief ich und drückte die Hand aufs Herz.
Rosaleen musterte mich von oben bis unten, und schließlich fiel ihr Blick auf das Tagebuch. Ich schlang schützend die Arme darum und schob es ein Stück unter meine Jacke.
»Wo gehst du denn hin?«, fragte sie leise.
»Nach draußen …«
Wieder wanderte ihr Blick zum Tagebuch. Sie konnte es einfach nicht verhindern.
»Soll ich dir ein bisschen Proviant zusammenpacken? Du kriegst unterwegs bestimmt Hunger. Ich hab noch frisches Brot und Hähnchen, Kartoffelsalat und Kirschtomaten …«
»Nein danke, ich bin noch total satt vom Frühstück.« Ich wandte mich zur Tür.
»Vielleicht ein bisschen Obst?« Sie hob die Stimme. »Ein Sandwich mit Käse und Schinken? Wir haben auch noch einen Rest Kohlsalat …«
»Nein, Rosaleen. Danke.«
»Okay.« Wieder die beleidigte Miene. »Sei aber bitte vorsichtig, ja? Geh nicht zu weit weg. Bleib auf dem Grundstück. In Sichtweite vom Haus.«
In ihrer Sichtweite, meinte sie wohl eher.
»Ich zieh doch nicht in den Krieg«, lachte ich. »Ich geh nur ein bisschen … spazieren.«
In diesem Haus wusste jeder zu jeder Zeit genau Bescheid, wo die anderen waren, aber ich wollte endlich mal ein paar Stunden allein sein, Zeit haben für mich selbst.
»In Ordnung«, sagte Rosaleen zögernd.
»Mach nicht so ein besorgtes Gesicht.«
»Ich weiß einfach nicht …« Sie schlug die Augen nieder, blickte zu Boden, strich sich über ihr Kleid. »Würde deine Mutter dich gehen lassen?«
»Mum? Mum würde mich auf den Mond fahren lassen, wenn sie dadurch verhindern kann, dass sie sich den ganzen Tag mein Genörgel anhören muss.«
Ich bin nicht sicher, ob es Erleichterung war, die sich auf Rosaleens Gesicht ausbreitete. Vielleicht machte sie sich auch weiter Sorgen. Aber mir wurden auf einmal ein paar Dinge klar, und ich entspannte mich ein bisschen. Rosaleen hatte selbst keine Kinder, und nun hatte sie plötzlich einen Teenager und eine Frau in einer Art Winterstarre unter ihren Fittichen.
»Oh, ich verstehe«, sagte ich leise, streckte die Hand aus und legte sie vorsichtig auf Rosaleens Arm. Aber Rosaleen machte sich sofort so starr, dass ich meine Hand schnell wieder zurückzog. »Du brauchst dir keine Sorgen um mich zu machen. Mum und Dad lassen mich schon lange so gut wie überall hingehen. Ich hab früher oft den ganzen Tag mit meinen Freunden in der Stadt verbracht. Einmal bin ich sogar mit meiner Freundin allein nach London gefahren. Für einen ganzen Tag. Ihr Dad hat einen Privatjet. Das war total cool. Der Flieger hat bloß sechs Plätze oder so, und Emily – meine Freundin – und ich hatten das ganze Flugzeug für uns. Zu ihrem siebzehnten Geburtstag haben ihre Eltern uns nach Paris fliegen lassen. Allerdings ist da ihre ältere Schwester mitgekommen, um uns ein bisschen im Auge zu behalten. Sie ist neunzehn, schon auf dem College und alles.«
Rosaleen hörte mir aufmerksam zu, viel zu eifrig, viel zu angespannt, fast ein bisschen verzweifelt.
»Oh, das ist ja schön«, sagte sie munter, und ihre grünen Augen gierten förmlich nach jeder Information, die ich ihr zu geben bereit war. Es kam mir vor, als wollte sie die Worte verschlingen, sobald sie aus meinem Mund gekommen waren. »Du hast doch bald Geburtstag – wünschst du dir da so etwas?« Sie sah sich in der Diele des Torhäuschens um, als würde sich dort vielleicht ein
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