Ich schreib dir morgen wieder
Verbindung aufzunehmen. Aber ich steigerte mich so in das Problem hinein, dass ich am Ende doch einschlief und genau das träumte, was die Tamara von morgen prophezeit hatte: Aus meinem Dad wurde mein Englischlehrer, meine Schule zog nach Amerika um, ich konnte die Sprache nicht, dann wohnten wir auf einem Boot. Der einzige Unterschied war, dass ich mehrmals von anderen Schülern – die teilweise zum Ensemble von
High School Musical
gehörten – gebeten wurde zu singen, aber wenn ich den Mund aufmachte, kam wegen der Halsentzündung kein Ton heraus. Allerdings glaubte mir das niemand, weil ich deswegen ja schon einmal gelogen hatte.
Und es gab noch einen anderen Unterschied zu dem Tagebucheintrag, den ich wesentlich beunruhigender fand: Das Boot, auf dem ich wohnte und das aussah wie eine hölzerne Arche Noah, war gerammelt voll mit Menschen, dichtgedrängt wie Bienen in einem Bienenstock. Rauch zog durch die Gänge, aber außer mir bemerkte es niemand. An langen Banketttischen, die aussahen wie aus einem
Harry-Potter
-Film, aßen alle seelenruhig weiter, stopften sich voll, und keiner nahm zur Kenntnis, wie der Rauch sich immer weiter ausbreitete. Aber als ich versuchte, die anderen zu warnen, konnte keiner mich hören, denn ich war ja so heiser, dass ich keinen Ton herausbrachte. Es war wie in dem Spruch von dem Jungen, der so oft unnütz Alarm geschlagen hatte, dass keiner mehr auf sein Gezeter achtete.
Man könnte nun sagen, dass das Tagebuch recht gehabt hatte, oder – wenn man es zynischer formulieren will – dass ich den Traum nur deshalb gehabt hatte, weil ich mich so zwanghaft mit seinen in dem Tagebuch dokumentierten Details beschäftigt hatte. Aber genau wie vorhergesagt, erwachte ich davon, dass Rosaleen einen Topf auf den Boden fallen ließ und einen lauten Schreckensschrei ausstieß.
Ich warf die Decke weg, sprang aus dem Bett und kniete mich auf den Boden. Letzte Nacht war ich dem Rat meiner prophetischen Stimme gefolgt und hatte das Tagebuch unter dem lockeren Dielenbrett versteckt. Wenn die Tamara von morgen das so wichtig fand, wollte ich lieber auf Nummer sicher gehen. In den letzten Nächten hatte ich meine Schlafzimmertür mit dem Holzstuhl blockiert. Natürlich konnte ich so nicht wirklich verhindern, dass Rosaleen hereinkam, aber ich hätte es wenigstens merken müssen. Seit der ersten Nacht hatte sie mich, soweit ich wusste, nicht mehr beim Schlafen beobachtet.
Ich saß auf dem Fußboden neben meiner Tür und las gerade noch einmal den Eintrag von gestern Abend, als ich Schritte auf der Treppe hörte. Schnell spähte ich durchs Schlüsselloch und sah, dass Rosaleen meine Mum die Treppe hinaufführte. Fast wäre ich aufgesprungen und hätte einen Freudentanz vollführt. Nachdem sich die Zimmertür meiner Mutter geschlossen hatte, klopfte Rosaleen bei mir an.
»Guten Morgen, Tamara. Alles in Ordnung?«, rief sie von draußen.
»Äh, ja, danke, Rosaleen. Was war das denn unten grade für ein Lärm?«
»Ach nichts. Mir ist nur ein Topf runtergefallen.«
Jetzt begann sich der Türknauf zu drehen.
»Nicht reinkommen! Ich hab nichts an!« So schnell ich konnte, drückte ich die Tür wieder zu.
»Oh, okay …« Die Erwähnung von Körpern, vor allem von nackten Körpern, war ihr offensichtlich peinlich. »Ich wollte nur Bescheid sagen, dass das Frühstück in zehn Minuten fertig ist.«
»Schön«, sagte ich und fragte mich, warum sie mich angelogen hatte. Mums Ausflug nach unten war doch ein gigantischer Fortschritt! Natürlich nicht für eine normale Familie, aber für uns war es zurzeit ein Grund zum Feiern.
In diesem Moment begriff ich, wie wichtig das Tagebuch war. Jeder Satz war eine Brotkrumenspur, die ich von meinem alten Zuhause hierher auslegte. Jedes Wort war ein Hinweis, der etwas von dem enthüllte, was sich hier vor meiner Nase abspielte. Als ich geschrieben hatte, dass ich von dem runtergefallenen Topf und dem Schrei aufgewacht war, hätte mir sofort klar sein müssen, dass Rosaleen so etwas normalerweise nie passieren würde und dass es einen Grund dafür geben musste. Warum hatte sie mir nicht gesagt, dass Mum unten gewesen war? Um mich zu schützen? Um sich zu schützen?
Ich machte es mir wieder auf dem Boden bequem, lehnte mich mit dem Rücken an die Tür und las den Eintrag, den ich gestern Abend entdeckt hatte.
Sonntag,
5
. Juli
Ich hätte Weseley nichts von Dad erzählen sollen. Wie er mich angesehen hat, so voller Mitleid! Wenn er mich nicht mag, dann mag
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