Ich schreib dir morgen wieder
er mich eben nicht. Dass mein Vater Selbstmord begangen hat, macht mich nicht netter – obwohl es für ihn anscheinend so war –, aber woher sollte er das wissen? Wahrscheinlich ist es ziemlich scheinheilig, wenn ausgerechnet ich das sage, aber ich möchte nicht, dass die Leute ihre Meinung über mich ändern, weil mein Dad sich umgebracht hat. Eigentlich habe ich gedacht, das Gegenteil würde der Fall sein – dass ich mich im Mitgefühl suhlen würde bis zum Gehtnichtmehr. Dass ich es genießen würde, wenn sich die ganze Aufmerksamkeit auf mich richtet, weil ich mir dann alles erlauben könnte.
Ich hab gedacht, das würde mir gefallen. Weil ich Dad ja gefunden hatte, wurde ich auf der Polizei, wo ich heulend meine Aussage machte, mit Fragen, Tee und freundlichem Rückentätscheln geradezu überhäuft, und als wir dann bei Barbara unterschlüpften, las Lulu uns jeden Wunsch von den Augen ab – was bei mir größtenteils auf stündlich eine heiße Schokolade mit einer Extraportion Marshmallows hinauslief. Aber mal abgesehen von diesem ersten Monat nach Dads Tod, hat man sich eigentlich nicht besonders um mich gekümmert. Es sei denn, das, was Rosaleen und Arthur hier veranstalten, ist eine Art ganz spezieller Fürsorge, und nächsten Monat werde ich Aschenputtel.
Anfangs konnte ich die Neue in unserer Klasse, Susie, echt nicht ausstehen, aber dann hab ich herausgefunden, dass ihr Bruder bei Leicester im Rugbyteam spielte, und plötzlich saß ich in Mathe neben ihr und verbrachte einen Monat lang jedes Wochenende bei ihr zu Hause, bis man ihren Bruder aus der Mannschaft geschmissen hat, weil er verhaftet worden war. Anscheinend hatte er einen Red Bull Wodka zu viel gekippt, war auf ein Auto gesprungen und hatte es komplett demoliert. Die Klatschpresse fiel über ihn her, und er verlor seinen Vertrag mit einer Kontaktlinsenfirma. Keiner wollte mehr etwas mit ihm zu tun haben.
Und dann war ich weg.
Ich kann nicht glauben, dass ich das wirklich aufgeschrieben habe. Schäm.
Jedenfalls hat Weseley sich total verändert, als ich ihm erzählt habe, dass Dad sich umgebracht hat. Ich hätte mir irgendwas anderes einfallen lassen sollen. Dass er im Krieg umgekommen ist oder so, keine Ahnung, nur irgendwas anderes, irgendeinen normaleren Tod. Wäre es zu seltsam, wenn ich ihm jetzt sagen würde: »Übrigens, wegen der Selbstmordgeschichte? Das war ein Scherz. In Wirklichkeit ist mein Dad an einem Herzinfarkt gestorben. Hahaha.«
Nein. Keine gute Idee.
Wer zum Teufel war dieser Weseley nur? Ich schaute auf das Datum des Eintrags. Na klar, morgen. Also würde ich irgendwann zwischen jetzt und morgen Abend einen Weseley kennenlernen. Aber wie? Würde er über die Mauer von Fort Rosaleen klettern, um mir hallo zu sagen?
Nachdem ich letzte Nacht total seltsam geträumt habe, war ich beim Aufwachen noch viel müder als am Abend vorher. Ich hatte kaum geschlafen und wollte den Vormittag im Bett bleiben, oder besser noch den ganzen Tag. Aber es kam anders. Die sprechende Uhr klopfte an meine Tür, und dann stürzte sie auch schon herein.
»Tamara, es ist halb zehn. Wir gehen jetzt zur Zehn-Uhr-Messe und dann noch kurz auf den Markt.«
Ich brauchte eine Weile, um zu kapieren, was sie mir damit sagen wollte, aber schließlich hab ich wohl etwas davon gemurmelt, dass ich eigentlich nicht so der Kirchgänger bin, und darauf gewartet, dass sich ein Eimer Weihwasser über mich ergießt. Nichts dergleichen geschah. Rosaleen warf mir nur einen kurzen Blick zu, um sich zu vergewissern, dass ich über Nacht nicht die Wände mit Kot beschmiert hatte, und meinte dann, es wäre gut, wenn ich zu Hause bleiben und Mum im Auge behalten könnte.
Halleluja.
Kurze Zeit später hörte ich das Auto wegfahren und stellte mir Rosaleen in einem Twinset mit Brosche und einem Blumenhut vor, obwohl sie vorhin gar keinen Hut aufgehabt hatte. Dann hab ich mir ausgemalt, wie Arthur mit Zylinder in einem Cadillac Cabrio sitzt, und die ganze Welt wird sepiafarben, während sie zur Sonntagsmesse brausen. Ich war so froh, dass sie mir erlaubt hatten, zu Hause zu bleiben, und kam erst mal gar nicht auf die Idee, dass Rosaleen vielleicht nicht mit mir in der Kirche oder auf dem Markt gesehen werden wollte. Das fiel mir erst später ein, und da war ich ziemlich gekränkt. Aber dann bin ich wieder eingeschlafen und erst einige Zeit später wieder aufgewacht, weil jemand vor dem Haus hupte. Keine Ahnung, wie lange ich geschlafen hatte. Zuerst hab ich
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