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Ich sehe dich

Titel: Ich sehe dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Clark
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öffnete sich. Lydias Muskeln spannten sich an. Sie versteckte ihr Gesicht hinter der Speisekarte. Ein Typ marschierte an ihr vorbei und verschwand in der Toilette. Sie atmete auf.
    Dann bestellte sie grünen Tee mit frischer Zitrone.
    Würde sie je einen Schlussstrich unter ihre Vergangenheit setzen können? Einfach in einer Kneipe sitzen, ohne hochzuschrecken, wenn ein Mann den Raum betrat? Sie stellte sich vor, wie sie die kratzende Perücke und die lästige Brille mit den ungeschliffenen Gläsern in die Mülltonne stopfte, bis sie unter dem normalen Hausmüll für immer begraben waren. Wie sie die farbigen Kontaktlinsen mit einem Schwall Wasser in die Kanalisation spülte, anstatt sie panisch aus dem Waschbecken zu fischen. Doch sie wusste, dass das ein Wunschtraum war. Wie sollte sie mit der Vergangenheit abschließen, wenn sie immer wieder von ihr eingeholt wurde?
    Die Tür öffnete sich, und eine junge Frau in schwarzem Minirock und grau-schwarz karierter Strumpfhose trat ein. Sie blickte sich aufmerksam um und zeigte dann fragend auf Lydia. Automatisch winkte Lydia sie an ihren Tisch. Das musste Christinas Schwester sein, dachte sie erstaunt. Unglaublich, wie verschieden die beiden aussahen. Die dunkelhaarige, schlanke Frau war größer, vielleicht einen Meter siebzig, und nicht so zerbrechlich wie Christina. Ihr von großen, dunklen Augen dominiertes Gesicht strahlte eine schwer zu beschreibende Attraktivität aus, die mit Christinas zarten Zügen nicht zu vergleichen war. Als dieser Seitz sie angerufen und gebeten hatte, Christinas Schwester einen Einblick in die Gruppe zu geben, hatte Lydia nur zögerlich zugestimmt. Sie wollte nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf sich lenken. Aber er hatte sie so lange bedrängt, bis sie schließlich zustimmen musste, wusste sie doch, dass er es gut meinte. Er hätte Christina sogar Geld gegeben, damit sie sich scheiden lassen konnte.
    Diese verdammte Folterkammer! Wie hatte sie nur auf so eine idiotische Idee kommen können?
    »Hallo!«, begrüßte die Frau sie mit klarer, freundlicher Stimme. »Ich bin Sara Neuberg, Christinas Schwester. Sind Sie Frau Liebig?«
    »Valeska.« Lächelnd reichte sie Sara die Hand.
    »Das ist ein schöner Name. Valeska. «
    Lydia nickte. Ihr Lächeln verschwand. Ein schöner Name? Ja, mag sein, aber deshalb hatte sie ihn nicht ausgewählt. Sondern weil er eine Bedeutung hatte. Weil er das ausdrückte, was sie heute war – was sie war, wenn sie ihre Perücke aufsetzte und sich zu einer anderen machte: Valeska, die Starke . Sie zupfte an ihrem grünen Wollkäppi und strich die darunter hervorquellenden rotblonden Locken zurück. »Die Sache mit Christina tut mir sehr leid. Ich hoffe, dass ich dir irgendwie helfen kann.«
    »Kannst du mir einfach von Tini erzählen? Ich meine … so wie du sie kennst.«
    »Naja, ich weiß nicht viel über sie. Sicher nicht so viel wie du.« Lydia machte eine kurze Pause und trank einen Schluck Tee. »Ich weiß, dass sie sehr verzweifelt war.«
    »Wegen Paul?«
    »Auch. Aber eigentlich, weil sie davon überzeugt war, versagt zu haben.«
    »Versagt? Paul war doch der Schläger!«
    »Klar.« Lydia lächelte. Sie rückte die Brille auf der Nase zurecht. »Aber siedachte, sie müsse es besser im Griff haben, weil sie beruflich damit schon so oft Berührung hatte. Das ist natürlich Unsinn.«
    »Hat ihr die Gruppe denn geholfen?« Sara stellte ihre Handtasche auf den Knien ab, kramte ein Notizbuch und einen Stift hervor und blickte sie erwartungsvoll an.
    »Ich glaube ja. Sowohl das Forum als auch unsere lokale Gesprächsgruppe. Wir haben auf jeden Fall von ihr profitiert. Du kennst sie ja. Sehr reflektiert, sehr kritisch in der Betrachtung der eigenen Rolle innerhalb des Gewaltgefüges. Wenn sie sprach, also, das hatte immer Hand und Fuß.« Lydia nahm die Brille ab und massierte die Druckstellen an der Nasenwurzel. »Sie hatte großen Einfluss in der Gruppe.«
    Leiser fügte sie hinzu: »Vielleicht zu viel. Zumindest für Kathi. Für sie war deine Schwester ein Vorbild.«
    »Moment. Tini ist für den Mord dieser Frau nicht verantwortlich.«
    »Natürlich nicht. Ich versuche nur, Zusammenhänge herzustellen. Du kennst Kathi nicht.« Lydia rutschte mit ihrem Stuhl näher an Sara heran. »Kathi kam nach ihrem zweiten missglückten Selbstmordversuch zu uns. Sie hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten. Aber das war eher ein Hilfeschrei, wie so oft. Bei versuchtem Selbstmord überweist einen der behandelnde Arzt

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