Ich sehe dich
wäre sie nur in extremem Jähzorn fähig gewesen, einen Menschen zu töten. Aber ein Giftmord im Affekt? Noch dazu mit Eibenfrüchten? Unsinn! Nur, was war mit dieser Kathi? Die hatte ihre Folterkammerfantasie wahr gemacht.
»Und wenn Tini ein Zeichen setzen wollte?«
»Dann hätte sie sich zu der Tat bekannt.« Er hob eine Giraffe aus grünem Papier hoch. »Ist Origami ein Ausgleich zum Klettern?«
»Was?« Sara blickte ihn irritiert an. »Nein, das ist Beschäftigungstherapie für meine Hände, seit ich das Rauchen aufgehört habe. Und jetzt? Was machen wir jetzt?«
Michael stellte die Giraffe zurück und sah sie eindringlich an. »Wir müssen herausfinden, wer von ihrer Giftfantasie gewusst hat und wem Paul in letzter Zeit auf die Füße gestiegen ist. Und – wir müssen an sie glauben.«
Sara senkte den Blick. Sie erinnerte sich, wie er gestern Tini befragt hatte. Auf den Punkt genau, detailbewusst, analytisch und immer voller Vertrauen. Sie war dem Frage-und-Antwort-Spiel fast zwei Stunden lang gefolgt und hatte dabei intensiv seine Gesichtszüge studiert, magisch angezogen von der Wärme und Sicherheit, die er ausstrahlte.
»Ist Paul denn wirklich so umgebracht worden? Mit Eibengift? Ich wusste nicht, dass das tödlich ist«, sagte sie schließlich.
»Er ist auf jeden Fall an einer Alkaloidvergiftung gestorben, mit neunundneunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit durch ein Eibengift. Deine Frage ist allerdings berechtigt, denn tatsächlich gibt es nur wenige Todesfälle. Das liegt wohl daran, dass der rote Fruchtmantel ungiftig ist. Damit das Gift wirkt, muss der Samen sehr stark zerkaut oder pulverisiert werden.«
Sofort fiel Sara der Satz aus dem Eintrag ein: Das Häufchen Samen zerstoße ich mit dem Mörser aus Stein, bis nur noch ein Pulver übrig ist … Tini hatte gewusst, wie man das Gift verabreichen musste. Wieder spürte sie das nagende Gefühl des Zweifels. Und wenn Tini keinen anderen Ausweg mehr gesehen hatte? Oder vielleicht hatten sich die Frauenwehr-Mitglieder gegenseitig hochgeschaukelt?
»Hast du einen Plan?«, fragte sie schnell, um ihre Gedanken nicht zu Ende führen zu müssen.
»Würdest du mit dieser Selbsthilfegruppe Kontakt aufnehmen? Neben dem Forum gibt es hier auch eine lokale Gesprächsgruppe.« Er zwinkerte ihr zu. »Da tust du dich als Frau leichter.«
Er legte ihr einen Zettel mit einer Telefonnummer hin. »Die Nummer von Valeska Liebig. Sie erwartet deinen Anruf.«
Er kritzelte etwas auf den Zettel.
»Christinas Logindaten bei frauenwehr.de. Da kannst du dich schon mal einlesen.« Er zog einen USB-Stick aus der Tasche, steckte ihn ein und übernahm die Maus. Er ging zur Folterkammer zurück, wählte die Option Beiträge in Druckformat anzeigen und speicherte die Druckdaten als PDF–Datei. Erst auf ihrer Festplatte und dann auf seinem Stick. Er entfernte den Stick, wedelte damit vor ihren Augen und lächelte sie an. »Ich gehe davon aus, dass die Polizei diesen Bereich des Forums sehr bald dichtmacht. Aber das wird uns jetzt nicht mehr aufhalten.«
Freitag, 12. Dezember
19
Die Kneipe war fast leer. Lydia blickte sich prüfend um. Zwei junge Türken saßen an der Bar vor ihren Espressotassen und diskutierten lautstark. Am Fenster aß der langhaarige Besitzer des Tattoo-Studios eine Suppe, im hinteren Teil der Kneipe beugten sich ein Mann und eine Frau geschäftig über mehrere Kataloge. Zielstrebig ging Lydia zu dem Garderobenständer, zog ihren grünen Parka aus und hängte ihn auf. Dann steuerte sie einen Tisch in der Nähe der Bar an, setzte sich mit Blick zur Tür auf einen der Holzstühle und platzierte ihren schwarzen Rucksack auf dem Stuhl neben sich.
Um diese Zeit war Lydia am liebsten hier. Die Gäste vom Mittag waren bereits gegangen, und für die abendlichen Kneipenbesucher war es noch zu früh. Sie rückte den Stuhl etwas zurück und ließ die gemütliche Atmosphäre des Gastraums kurz auf sich wirken. Sie liebte den abgetretenen Parkettboden und die alten Holztische mit dem um diese Zeit großzügig ausgebreiteten Weihnachtsdekor und die getäfelte Wand mit den bunten Bildern. Wenn sie die Augen so zusammenkniff, dass die Sicht ein wenig verschwamm, und mit der linken Hand den Blickwinkel einschränkte, sah es fast so aus wie im Klosterwirt in Fürstenfeldbruck. Ob sie dort noch jemand vermisste? Ob sie dort jemand erkennen würde, wenn sie heute mit ihren falschen Locken, der Brille und den grünen Kontaktlinsen hereinspazierte?
Die Tür
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