Ich sehe dich
lauschte sie den leisen Geräuschen. Aus der Kochnische drang kaum vernehmbar das Surren des Kühlschranks, während das gleichmäßige Ticken der riesigen Wanduhr im Veranstaltungssaal die Stille verstärkte.
Lydia fixierte die Bürotür mit einem Buch und setzte sich wieder an den Schreibtisch. Sie blätterte durch ihre Notizen und versuchte, sich zu konzentrieren. Doch es gelang ihr nicht. Immer wieder hob sie den Kopf, starrte in den hell erleuchteten Saal und horchte. Schließlich erhob sie sich, ging zu ihrem Parka und zog eine Gaspistole aus der Jackentasche. Die Pistole in der Hand, setzte sie sich wieder auf ihren Stuhl und legte sie vorsichtig neben ihr Notizbuch. Sie zückte ihren Kugelschreiber, schrieb Dr. Rosens Liste über die Seite und teilte sie in zwei Spalten. Eine Spalte titulierte sie mit Pro, die andere mit Contra. Nach kurzem Überlegen schrieb sie in die Pro-Spalte: mehr Sicherheit, Neuanfang, legal Arbeiten (nie wieder Dumpingjobs), Krankenversicherung, coole Stadt … Sie hielt inne, dann strich sie Neuanfang wieder durch. Was sollte daran gut sein? Dass sie ihre Gruppe aufgeben, wieder bei null anfangen, sich neu behaupten musste? Sie kritzelte Neuanfang unter Contra,als das Klingeln des Telefons sie aufschreckte.
Sie hob ab. »KulturLaden, hallo?«
»Jutta Herberg, Frauenhaus Berlin. Ich habe Ihre Nummer auf meiner Anruferliste. Haben Sie versucht, uns zu erreichen?«
Lydia verzog ihr Gesicht, als hätte sie Schmerzen. Mist. Und jetzt? »Ah. Ja. Ich hab es vorhin mal versucht, aber …«
»Kann ich Ihnen helfen?« Die Frauenstimme wirkte gleichzeitig bestimmt und beruhigend.
Lydia zögerte. »Ich … ich habe wegen der Stelle angerufen. Valeska Liebig hat mich empfohlen. Für die Stelle, die sie abgesagt hatte, sie müssten Ihre Mail bekommen haben.«
Am anderen Ende entstand eine Pause. Lydia schloss ihre Augen und schüttelte still den Kopf über sich selbst. Warum war sie so zögerlich? Das war ihre Chance, diesem Leben in permanenter Angst zu entkommen, der Angst vor ihm, vor den Behörden, vor Entdeckung, vor dem Verlust ihres schlecht bezahlten Jobs, vor einem Krankenhausaufenthalt, den sie nie würde bezahlen können … Sie würde offiziell in einem Frauenhaus arbeiten und damit ihren Lebensunterhalt verdienen. Und nebenbei noch immer ehrenamtlich Gruppen wie Frauenwehr leiten.
»Sie hat meinen Lebenslauf mitgeschickt. Valeska Liebig und ich haben einen sehr ähnlichen Werdegang, wir …«
Lydia hörte das Rascheln von Papier, dann die freundliche Stimme. »Frau Schneider? Andrea Schneider?«
Lydia verzog bei der Nennung des Namens wieder ihr Gesicht. »Ja. Genau. Das bin ich.«
»Schön, dass Sie sich melden!« Die Frau klang ehrlich erfreut. »Wir würden Sie gerne kennenlernen. Wann könnten Sie denn zu einem Vorstellungsgespräch zu uns kommen?«
Lydia blätterte zwei Seiten zurück und überflog ihre To-do-Liste. Wenn Sie sich morgen und Donnerstag ranhielt, könnte sie Donnerstagabend den Nachtzug nehmen. »Gegen Ende der Woche, ginge Freitag bei Ihnen?«
40
Von wegen, wenn du deine Ehe retten willst, solltest du zu Dr. Rosen gehen … Im Geiste ahmte Sara Valeskas Stimme nach, legte heftig den ersten Gang ein und ließ die Kupplung zu schnell kommen. Mit einem Satz sprang der Audi nach vorne und kam dem Auto vor ihm gefährlich nahe.
Aber vielleicht war das gut so. Endlich hatte sie ausgesprochen, was ihr seit Jahren auf der Seele lastete. Sie waren keine Partner. Sie waren einfach nur verheiratet. Auf dem Papier. Genaugenommen war ihre Ehe ein Witz. Sie konnte an einer Hand abzählen, wie oft sie in den letzten Jahren Sex gehabt hatten. Und das lag nicht nur an ihr. Sie musste sich selbst gegenüber endlich ehrlich sein. Ronnie hatte sich nicht geändert. Er war die ganzen Jahre der Gleiche geblieben, er würde sich nie ändern, wie sein fulminanter Abgang heute wieder bewiesen hatte. Ronnie konnte nichts dafür, dass sie eine Wunschvorstellung auf ihn projiziert, dass sie ihn kaum gekannt hatte, als sie mit Jonas schwanger geworden war. Wenn der Besuch bei Dr. Rosen heute etwas gebracht hatte, dann die Erkenntnis, dass ihre Ehe am Ende war – lange bevor Ronnie das heute ausgesprochen hatte.
Und trotzdem war ihr immer noch schlecht. Seine Worte hatten sie wie ein Faustschlag in den Magen getroffen.
Die Ampel schaltete auf Gelb. Sara drückte auf das Gaspedal und drängelte sich als letztes Auto über die Kreuzung. Sie dachte an den Ratschlag von Dr.
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