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Ich sehe dich

Titel: Ich sehe dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Clark
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Lautsprechern tönte ein Stück von Randy Crawford.
    »Ihr wart bei der Eheberatung?« Sein Gesichtsausdruck war vollkommen neutral. Zu neutral. Zumindest im Vergleich zu seinem Verhalten vorhin, als er ihre Hand gehalten hatte. Ob er denkt, dass sie ihm etwas durch die Blume mitteilen will? Dass sie ihm sagen möchte, dass sie noch an Ronnie hängt und die Ehe retten möchte?
    Sie lächelte ihn an. »Jetzt können wir die Scheidung einreichen.«
    Sein Gesichtsausdruck änderte sich. Sie sah Mitgefühl, als könnte er erahnen, wie sie sich nach der Sitzung gefühlt haben musste. »Warst du deswegen am Telefon so fertig?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich hatte Angst.«
    Michael streckte seinen Arm aus und nahm ihre Hand. Er drückte sie sanft, fast zärtlich. »Es ist in Ordnung, sich zu fürchten.«
    »Naja, dem König hab ich fast Pfefferspray in die Augen gesprüht, im Bahnhof hab ich vor lauter Verfolgungswahn meine Zeitschrift nicht bezahlt, und dann der Typ vor dem Bistro … Völlig hysterisch.«
    »Du hast klug reagiert.« Sein Händedruck nahm zu. Fast unmerklich, und doch spürte sie ihn so intensiv, dass sich Wärme in ihrem Körper ausbreitete.
    »Außerdem habe ich Ronnies neues Auto zu Schrott gefahren.«
    Michael blickte sie ernst an. »Erzählst du mir, was bei der Eheberatung passiert ist? Warum ihr überhaupt dorthin seid?«
    Sie nahm einen Schluck Wein. Ihre Mundhöhle füllte sich mit dem Geschmack von reifen Beeren. Plötzlich bemerkte sie, wie müde sie war. Vielleicht durfte sie hier auf der Couch schlafen. Wie Tini. Sie kämpfte gegen das Gefühl an, sich sofort in die weichen Kissen zu lümmeln und auszustrecken, hier, neben ihm, mit seiner Hand auf der ihren. Was er wohl über sie dachte? Wie fest er sie vorhin auf der Straße an sich gedrückt hatte. So, wie sie Jonas an sich gedrückt hatte, damals, als er einfach vom Spielplatz weggelaufen war und sie ihn verzweifelt gesucht hatte. Sie hatte kein Wort herausgebracht, aber in ihrer Umarmung hatte alles gelegen, was sie gefühlt hatte – die Angst vor dem Verlust, die Schuld, dass sie nicht aufgepasst hatte, und die Erleichterung, ihn wiederzuhaben. Ob Michael sich in sie verliebt hatte? Hatte er deshalb das Foto von Sylvia weggeräumt? Ihr Herzschlag beschleunigte sich.
    »Bist du sicher? Willst du das hören? Das wird eine lange Geschichte«, sagte sie.
    »Ich habe heute nichts mehr vor.«
    Sie nahm einen Schluck Wein, lehnte sich in die großen weißen Kissen zurück, ein kleines Stück näher zu Michael, und fing an zu erzählen.

Mittwoch, 17. Dezember
     

64
    Sara öffnete die Augen. Sie spürte das gleichmäßige Heben und Senken von Michaels Brust und fühlte, wie ihr Kopf sich im Rhythmus seines Atems bewegte. Sie schloss die Augen, sog den Duft seines After Shaves ein und genoss es, dass er seine starken Arme beschützend um sie gelegt hatte, gestern Nacht, als sie so müde gewesen war und sich mit jeder Faser ihres Körpers nach seiner Wärme und Geborgenheit gesehnt hatte. Sie wagte nicht, sich zu bewegen. Sie wollte ihn nicht aufwecken, wollte noch ein paar Minuten seine Nähe spüren, mit dem Kopf auf seiner Brust dem beruhigenden Klopfen seines Herzens lauschen. Sobald er aufwachte, war der Zauber der letzten Stunden vorbei. Ein Grund mehr wahrzumachen, was sie gestern gesagt hatte.
    Sie rief sich ihr Gespräch über Ronnie und Jonas ins Gedächtnis zurück. Bereute sie ihre emotionsgeladenen Worte? Oder dass sie Michaels Hilfe akzeptiert hatte, um einen neuen Weg einzuschlagen?
    Zaghaft hob sie ihre Hand und blickte auf die schwach leuchtenden Neonziffern ihrer Uhr. Zehn nach sechs. Mit angehaltenem Atem löste sie sich aus seinem Arm, stand auf und schlich zur Garderobe, wo sie Mantel, Mütze und Schal vom Haken nahm, ihre Stiefel vom Fußboden aufhob und auf Zehenspitzen die Wohnung verließ. Leise schloss sie die Tür hinter sich, zog ihre Sachen an und ging die Holztreppe hinunter, peinlich darauf bedacht, keinen Lärm zu machen. Sie ging durch den spärlich beleuchteten Innenhof und trat auf die Schwanthalerstraße, auf der bereits reges Treiben herrschte.
     
    »Mama!«, rief Jonas und ließ die Hand seiner Großmutter los. Er lief über den kleinen Platz vor dem Haupteingang der Schule und flog in Saras Arme. Sie drückte ihn fest an sich.
    »Guten Morgen, mein Engelchen«, flüsterte sie in sein Ohr. »Hast du gut geschlafen?«
    »Meine Sportsachen! Papa hat gesagt, ich soll so turnen, aber die Frau

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