Ich sehe was, was du nicht siehst
Frühstückspension zu fahren, brachte Pierce sie zu seinem Haus. Sie war viel zu zittrig und blass, als dass er hätte zulassen können, dass der Pensionswirt sie beim Hereinkommen mit neugierigen Fragen bestürmte.
Er schloss die Haustür auf und trat beiseite, damit sie eintreten konnte. Sie blieb wie angewurzelt stehen, als befände sie sich in einer Art Trance, und er stupste sie vorsichtig an, damit sie sich wieder in Bewegung setzte. Die Verzweiflung in ihrem Gesicht zerriss ihm das Herz. Sie wirkte völlig verloren.
»Setz dich.« Er deutete mit dem Kinn auf die Couch und stellte das chinesische Essen, das er aus der Stadt mitgebracht hatte, auf die Arbeitsplatte in der Küche. Er holte zwei Teller und Besteck aus dem Küchenschrank und füllte zwei Gläser mit Eiswürfeln. Als er sich nach ihr umdrehte, um sie zu fragen, was sie trinken wolle, registrierte er stirnrunzelnd, dass sie immer noch regungslos dort stand, wo er sie verlassen hatte.
Er trat zu ihr und zog sie an der Hand zur Couch. Sie setzte sich und starrte aus dem Fenster. Er war sich ziemlich sicher, dass sie nicht die Bäume am Rand seines Grundstücks betrachtete. Ihr Blick war in die Ferne gerichtet, auf etwas, das er nicht sehen konnte.
»Die Mittagszeit ist längst vorbei, und du hast seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Hast du keinen Hunger?«
Sie zuckte mit den Achseln und starrte weiter aus dem Fenster.
Er klopfte mit der Faust gegen seinen Oberschenkel und stand unentschlossen da. Er wusste, dass Madisons temperamentvolle Persönlichkeit häufig genug dafür sorgte, dass die Leute sich von ihr provoziert fühlten, und mitten in einer Ermittlung waren sowohl ihre Impulsivität als auch ihr Mangel an Taktgefühl frustrierend – um es vorsichtig auszudrücken. Aber sie so zu sehen, so still und kleinlaut, machte ihm Angst. Sie war eine starke Frau. Niemals hätte er gedacht, dass irgendetwas eine solche Wirkung auf sie haben könnte.
»Ich bringe dir gebratene Nudeln mit Schweinefleisch und Gemüse und dazu etwas Reis. Und wie wäre es mit einer Frühlingsrolle? Die magst du doch, oder?«
Sie antwortete nicht, sondern starrte nur weiter aus dem Fenster.
Verzweifelt glitt sein Blick durch das Zimmer. Er wusste, dass Madison nicht besonders gern fernsah, aber sie brauchte etwas, das sie aus ihrem resignierten Zustand riss. Er ging zum Bücherregal an der gegenüberliegenden Wand und drehte das Satellitenradio auf, das dort stand. Madison war unkonventionell, sie liebte alles Künstlerische, auch Musik aller Art. Pierce hörte in mehrere Sender rein, bis er einen fand, der fröhliche Popmusik spielte, und drehte die Musik dann lauter.
Er sah zu Madison, doch sie reagierte nicht einmal.
Mit hängenden Schultern ging er in die Küche, um ihr einen Teller herzurichten. Als er zurückkam, wurde einer ihrer Lieblingssongs gespielt, doch sie wippte nicht einmal im Takt zur Musik.
Nachdem er Wasserflaschen und Teller auf den Tisch gestellt hatte, ließ er sich neben sie auf die Couch fallen. Er streckte den Arm aus und zog sie auf seinen Schoß.
Sie blinzelte überrascht, als hätte sie gerade erst bemerkt, dass er ebenfalls im Raum war. »Was tust du da?«
»Ich füttere dich. Du musst etwas essen.«
»Ich hab keinen Hunger.«
Er zog einen der Teller zu sich heran und hielt ihr eine Gabel mit Nudeln unter die Nase. »Dein Lieblingsessen, gebratene Nudeln mit Schweinefleisch und extra Sojasoße. Komm schon, probier doch mal.«
Sie schnupperte argwöhnisch und betrachtete das Essen auf der Gabel.
»Iss einen Bissen«, sagte er. »Tu’s für mich.«
Ganz sanft berührte er ihre Lippen mit der Gabel.
Sie seufzte leise und öffnete den Mund.
Ein paar hart erarbeitete Bissen später sagte Pierce: »Komm schon, es war nicht ganz einfach, so viel Sojasoße zu bekommen. Du könntest wenigstens sagen, dass es fantastisch schmeckt.«
Das halbherzige Lächeln, das sie ihm offerierte, war alles andere als überzeugend. »Es schmeckt großartig.«
Nachdem er sie mit weiteren Bissen gefüttert hatte, drehte Madison den Kopf weg. Sie weigerte sich, noch mehr zu essen.
Sie trank etwas von dem Wasser, das er ihr anbot, und schob seine Hand mit der Flasche dann weg. Pierce stellte das Wasser auf den Tisch zurück. Immer noch hielt er sie fest umschlungen und fragte sich, was er sonst noch tun konnte, um die alte Madison zurückzubekommen. Er musste sie necken. Oder verärgern. Er musste irgendetwas tun, um ihr altes Feuer
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