Ich sehe was, was du nicht siehst
Altstadt verband, und das war wahrscheinlich auch der Grund, warum das FBI das Gebäude etwas versteckt, abseits des Reynold Squares gebaut hatte – damit es nicht so auffiel und die Leute sich nicht beschwerten.
»Nach dir, Schlafmütze – oder soll ich dich eher Brummbär nennen?«
»Nur, wenn ich dich Seppel nennen darf.«
Er lachte, als sie an ihm vorbeiging und die winzige Eingangshalle betrat, in der es nicht einmal einen Pförtner gab.
Es war nicht ihre Schuld, dass sie heute nicht in der Stimmung war, das gut gelaunte Schneewittchen zu spielen. Wenn sie mit Handschellen gefesselt, entführt, von einem Fotomodell gefangen gehalten und dann auch noch todmüde ins FBI -Gebäude geschleppt wurde, war ihr nun mal nicht nach Disneygeträller zumute.
»Du kannst mich nicht ewig ignorieren.« Er steckte seinen Dienstausweis in das elektronische Lesegerät der Metallschranke. Es piepte, und die Schranke öffnete sich.
»Ich ignoriere dich nicht.« Sie trat durch die Pforte. »Ich habe bloß nichts zu sagen.«
Er schien sich das Grinsen nur mühsam verkneifen zu können, als er sie den Korridor hinunter zum Fahrstuhl führte. Als sie hineingegangen waren, verschränkte sie die Arme vor der Brust und warf ihm einen Blick zu, der ihn davor warnte, sich über sie lustig zu machen.
»Wirst du mir je verzeihen?« Er drückte auf den Knopf für den zweiten Stock.
»Du hast mich mit deiner Verlobten allein gelassen und ihr den Auftrag gegeben, auf mich zu schießen, falls ich versuche, auszureißen.«
Seine Mundwinkel zuckten. »Das hat sie dir gesagt?«
»So habe ich es jedenfalls verstanden.«
Er lachte. »Sie hat sich bestimmt nur einen Scherz erlaubt.« Sein Lächeln verschwand und er sah plötzlich ernst aus. »Und was die Verlobte angeht, versuche ich dir schon die ganze Zeit zu sagen …«
Sie hob abwehrend die Hand. »Ich habe dir schon heute Morgen gesagt, dass ich nicht über sie sprechen will. Dein Privatleben geht mich nichts an. Du schuldest mir keine Erklärung.«
Er warf ihr einen irritierten Blick zu, doch bevor sie herausfinden konnte, was es damit auf sich hatte, öffnete sich die Fahrstuhltür. Ein Mann im dunklen Geschäftsanzug, der dort an der Wand lehnte, erwartete sie. Er richtete sich auf und streckte die Hand aus. »Mrs McKinley, ich bin Special Agent Casey Matthews. Ich danke Ihnen für Ihr Kommen.«
Sie schüttelte lustlos die Hand. »Ich bin nur hier, weil Pierce die Hochzeitsreise meines Bruders ruiniert hätte, wenn ich dem Gespräch mit Ihnen nicht zugestimmt hätte. Das hier ist Zeitverschwendung.«
Seine Augen wurden groß, und er warf Pierce einen überraschten Blick zu.
»Glaub mir, sobald man die fiesen äußeren Stacheln überwunden hat, stellt man fest, dass sich in ihrem Inneren ein superweicher Marshmallowkern verbirgt.«
Casey prustete los, riss sich aber sofort zusammen, als Madison ihm einen bösen Blick zuwarf.
»Die Unannehmlichkeiten tun mir leid«, sagte er. »Ich werde versuchen, es kurz und schmerzlos zu machen.«
Er führte sie einen von grellen Deckenleuchten beleuchteten Korridor entlang in einen weitläufigen Raum, der in Bürozellen mit niedrigen Wänden unterteilt war. Etwa zwei Dutzend Männer und Frauen saßen dort vor Computerbildschirmen und musterten sie mit offener Neugier. Madison hatte den Eindruck, dass sie nicht allzu häufig Besuch von Zivilpersonen bekamen.
Casey führte sie zu seinem Büro, das sich am hinteren Ende des Raums befand. Es handelte sich um eins der wenigen Büros, das über echte Wände und eine Tür verfügte. Der Computer, der auf dem Schreibtisch aus beschichtetem Holz stand, sah teuer aus, aber die beiden billigen Vinylstühle davor entsprachen dem typischen, preisgünstigen Büromobiliar, das man häufig in staatlichen Einrichtungen vorfand. Der schmale Tisch, der zwischen den beiden Stühlen stand, war gerade groß genug für ein paar Aktenordner.
Oder eine Tasse Kaffee.
»Ich gehe mal nicht davon aus, dass man hier irgendwo einen Kaffee bekommt?«, fragte Madison. »Im Fernsehen trinken sie beim FBI immer Kaffee.«
Pierce setzte sich auf einen der Vinylstühle. »Nachher, wenn wir gehen, besorge ich dir einen.«
Casey lächelte. »Warum warten? Ich bin sofort zurück.«
Als sich die Tür hinter ihm schloss, trat Madison ans Fenster und gab vor, sich brennend für die Straße zu interessieren, die direkt am Gebäude vorbeiführte – auch wenn dort unten nicht mehr zu sehen war als parkende Autos und
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