Ich sehe was, was du nicht siehst
Sie riss die Tür auf und trat in das Großraumbüro, nur um nach wenigen Schritten innezuhalten, als sie sah, wer vor ihr stand.
Wenn da nicht die langen, roten Haare gewesen wären, hätte Madison Pierce’ Verlobte nicht wiedererkannt. Ganz im Gegensatz zu dem Betthäschen-Look der vergangenen Nacht wirkte Tessa heute in ihrem dunkelgrauen Kostüm mit knielangem Rock und bequemen, flachen Schuhen durch und durch professionell. An ihrer Jacke trug sie eine FBI -Dienstmarke, die sie als Sonderermittlerin Tessa James identifizierte. Sie und Pierce arbeiteten zusammen.
Wie praktisch.
Tessa grinste verlegen und kam mit ausgestreckter Hand auf sie zu. »Mrs McKinley, es tut mir leid, dass ich Ihnen gestern Abend nicht die Wahrheit sagen konnte. Wir mussten warten, bis wir den Fall abgeschlossen hatten. Ich durfte nicht riskieren, dass wir enttarnt würden.«
Madison machte keine Anstalten, der Frau die Hand zu schütteln. »Die Wahrheit?«
Tessa ließ die Hand sinken und runzelte verwirrt die Stirn. »Wir haben zusammen an einem Fall gearbeitet. Die Verlobung war nur vorgetäuscht.« Sie sah auf einen Punkt hinter Madisons Schulter. »Du hast es ihr nicht gesagt?«
Madison drehte sich langsam herum. Pierce stand gegen den Rahmen der Bürotür gelehnt, die Hände in den Hosentaschen.
Wut stieg in Madison auf. Sie fühlte sich wie eine Närrin. Sie war die Einzige gewesen, die
nicht
Bescheid gewusst hatte, die Einzige, die nicht in die Insiderinformationen eingeweiht gewesen war. Jetzt ergab auch das Gästezimmer mit der Männerkleidung Sinn. Am schlimmsten war, dass sie es Pierce nicht einmal übelnehmen konnte. Er hatte an diesem Morgen mehrere Male versucht, mit ihr über seine Verlobte zu sprechen. Doch jedes Mal, wenn er das Thema zur Sprache brachte, hatte sie abgeblockt und sich geweigert, ihm zuzuhören. Wahrscheinlich hatte er versucht, ihr die Wahrheit zu sagen.
Ein Teil von ihr freute sich darüber, dass es keine Verlobung gab. Doch die Freude wurde überschattet von dem Gefühl, sich wie eine Idiotin benommen zu haben.
»Ich finde allein hinaus.« Sie schob sich an Porzellangesicht vorbei und hastete an den zahllosen Bürozellen vorbei.
Als sie es endlich hinaus auf den Bürgersteig geschafft hatte, hatte sich ihre Verlegenheit in einen kalten, harten Knoten der Wut verwandelt, der ihr den Magen zusammenzog.
Sie schloss die Augen, lehnte den Kopf gegen die Backsteinmauer und atmete tief durch, um die Kontrolle über sich wiederzuerlangen.
Kontrolle
. Das war es, was sie jetzt brauchte, sie musste diese verrückte Situation in den Griff bekommen, statt anderen zu erlauben, sie zu kontrollieren.
Ihr ganzes Leben lang war sie immer die kleine Prinzessin gewesen, behütet und beschützt. Ihre Mutter, ihr Vater und sogar Logan hatten sie mit ihren guten Absichten erdrückt. Sie hatten so lange alle wichtigen Entscheidungen für sie getroffen, bis sie am liebsten vor Wut geschrien hätte. Als sie Damon kennenlernte und ihre Familie ihn ablehnte, hatte ihn das in ihren Augen nur noch attraktiver gemacht. Sie hatte entschieden, dass nun der Zeitpunkt gekommen war, Widerstand zu leisten und ihre eigenen Entscheidungen zu treffen.
Also hatte sie sich für Damon entschieden.
Du warst ein böses Mädchen.
Sie hielt sich die Ohren zu, um die Erinnerung an Damons Stimme aus ihrem Kopf zu vertreiben. Trotz zusammengebissener Zähne konnte sie ein leises Wimmern nicht unterdrücken.
»Miss, geht es Ihnen nicht gut?«
Sie riss die Augen auf. Sie zwang sich, die Hände sinken zu lassen und ein paarmal tief durchzuatmen. Ein Geschäftsmann mit einem Aktenkoffer in der Hand stand vor ihr und blickte sie besorgt an. Sein grauer Anzug erinnerte sie an die FBI -Agenten im Inneren des Gebäudes, und ihr Ärger flammte erneut auf.
»Ich bin in Ordnung. Vielen Dank.« Da er sie immer noch zweifelnd ansah, fügte sie hinzu: »Kopfschmerzen. Ich muss nur … ich werde mir etwas Wasser besorgen und eine Tablette nehmen.« Sie ließ den Fremden stehen und lief mit eiligen Schritten den Bürgersteig hinunter und überquerte die Straße.
Du hättest nicht herumschnüffeln dürfen. Zu viel Neugier kann tödlich sein. Vergiss das nicht.
Nein!
Sie griff sich mit der Hand an die Kehle und zwang sich dazu weiterzugehen. All diese Monate hatte sie versucht, sich selbst davon zu überzeugen, dass Damon tot war. Sie hatte die Augen vor der Wahrheit verschlossen und sich eingeredet, dass der Autopsiebericht fehlerhaft war, dass
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