Ich soll nicht töten
übel. Das hieß einiges. Für Jazz bedeutete es alles.
Er blickte auf das mondbeschienene Feld. Der Mond war jetzt nur ein wenig schmaler, als er es in der Nacht gewesen war, in der der Mörder die Tote hier abgeladen hatte. Jazz sah den Schauplatz so, wie ihn der Täter gesehen hatte. Das war wichtig.
Niemand außer uns sieht es so, sagte Billy. Die Gelegenheit war Jazz’ siebter Geburtstag, und Dear Old Dad hatte beschlossen, seinen Sohn zur Arbeit mitzunehmen. Jazz saß im Jeep, während Billy sein neununddreißigstes Opfer– eine Lehrerin namens Gail Clinton– in einer aufgegebenen Toilette eines öffentlichen Parks in Madison, Wisconsin, tötete. Nachdem er die Leiche dann zerstückelt hatte– bei den Opfern fünfunddreißig bis zweiundvierzig machte Billy eine Phase durch, in der er die Gliedmaßen der Leichen gern in interessanten und vielfältigen Positionen neu anordnete, wozu er sie an den Gelenken abtrennen musste–, holte er Jazz dazu und ging die wichtigsten Schritte zur Entfernung von Spuren mit ihm durch, die die Polizei– die » Scheißbullen«, wie er sie immer nannte– zu ihm führen könnten. Niemand sonst sieht es so, hatte er erklärt. Sie versuchen, sich vorzustellen, wie wir es sehen, aber das dürfen wir nicht zulassen. Deshalb hinterlassen wir manchmal falsche Hinweise. Und wir lassen sie nie in unseren Kopf. Verstanden? Denn unser Kopf gehört uns und niemandem sonst. Und jetzt sei ein braver Junge und gib Daddy diesen Müllsack herüber, ja?
Hier gab es keine falschen Spuren. Überhaupt keine Spuren. Die Polizeibeamten waren mindestens eine halbe Meile in einem Gittermuster abgelaufen, um nach Hinweisen zu suchen. Am Ende standen sie mit leeren Händen da. Locard war ein kluger Bursche, aber draußen in einem Feld wie diesem konnte der Austausch von Spurenmaterial bedeuten, dass ein Faden von der Hose des Täters an einer hohen Unkrautpflanze hing und sich nicht von dieser unterscheiden ließ. Es war schlimmer, als die Stecknadel im Heuhaufen zu suchen.
» Verrätst du mir eventuell, was wir suchen?«, sagte Howie. » Vielleicht kann ich helfen.«
» Ich versuche, wie der Mörder zu denken«, gab Jazz nach einem Augenblick zu, ein bisschen frustriert, weil ihm genau das im Moment schwerfiel. » Am wichtigsten ist es, herauszufinden, wie der Kerl auf den Schauplatz gekommen ist oder ihn verlassen hat. Wenn er schlau war, hat er beides auf die gleiche Weise getan. Dann ist es leichter, Spuren zu vermeiden.«
» Schau!« Howies Stimme überschlug sich vor Aufregung, und er deutete auf den Boden. » Ein Fußabdruck! Und mein Gott– da ist noch einer!«
Jazz schüttelte den Kopf. » Die stammen von der Polizei. Sie haben versucht, vorsichtig zu sein, aber der Boden war weich, als sie hier waren.«
» Dann könnte der Mörder ja auch welche hinterlassen haben«, sagte Howie leicht schmollend.
» Die Polizei hat aber keine gefunden. Und das ist auch logisch. Um diese Jahreszeit ist der Boden nachts zu hart von der Kälte.« Um es zu illustrieren, deutete er nach hinten, wo sie hergekommen waren– es gab keine Abdrücke von ihren Schuhen.
Howie schniefte. » Wenn es so kalt ist, dann könnte sie tagelang hier gelegen haben. Wochenlang.«
» Nein, so kalt ist es auch wieder nicht. Tiere und Bakterien lassen nach einem Monat keinen Fetzen Fleisch mehr übrig. An der Frau waren noch nicht einmal Fliegen. Sie war frisch.– Er ist also nachts hierhergekommen«, fuhr Jazz fort. » Wenn du nachts herkommen müsstest, aus welcher Richtung würdest du dich nähern?«
Howie zeigte in die Richtung, aus der sie selbst gekommen waren. » Von dort, es ist der leichteste Weg.«
» Ja, aber es ist nur der einfachste Weg, weil wir uns auskennen. Wir sind hier aufgewachsen, deshalb wissen wir von der Zufahrtsstraße.«
» Du meinst also, er kann nicht auf diesem Weg gekommen sein?«
Jazz zuckte mit den Achseln. » Ich meine, wir dürfen nicht davon ausgehen. Aber wenn er wirklich von dort gekommen ist, sagt es etwas über ihn aus. Es bedeutet, dass er entweder ein Einheimischer ist oder Lobo’s Nod und dieses Feld hier vor seiner Tat gründlich ausgekundschaftet hat.«
» O Mann. Du denkst, es ist jemand aus dem Ort? Jemand, den wir kennen? Wie wahrscheinlich ist das?«
Er meinte natürlich die Wahrscheinlichkeit, dass in einer Stadt von der Größe von Lobo’s Nod zwei Serienmörder lebten. Jazz war kein Mathematikgenie, aber er stellte sich vor, dass die Wahrscheinlichkeit
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