Ich, Tochter eines Yakuza (German Edition)
über den Kopf.
»Egal, wie sehr du mich auch geschlagen hast, du warst immer mein Vater.«
In meiner Jugend hatte ich oft das Gefühl, dass sich mein Vater von mir abgewandt hatte. Dabei hätte ich mir so sehr gewünscht, dass er sich mir wenigstens ein einziges Mal zuwenden würde. Mein Herz schmerzte vor Einsamkeit, weil er mich nie wirklich wahrgenommen hatte, und ich hatte Angst vor ihm. Nicht, weil er mich geschlagen hatte, sondern weil ich mir nie sicher war, ob er mich liebte. Vielleicht war es ja er, den ich die ganze Zeit gesucht hatte.
Nachdem ich im Erziehungsheim gelandet war, hatte einer der Betreuer zu mir gesagt: »Tendo, du machst immer gründlich sauber, auch wenn keiner von uns dich beobachtet. Und du regst dich nicht über die auf, die ihren Teil nicht erledigen. Eine wie dich habe ich hier noch nie erlebt. Ich verstehe wirklich nicht, wie du hier enden konntest.«
Viele Erwachsene sagten damals, dass sie nicht verstehen konnten, wieso ich tat, was ich tat, und wieso ich diesen Weg nahm. Weder mein Umfeld noch irgendeine bestimmte Person waren schuld, dass ich in das Erziehungsheim kam. Ich wollte einfach nur Spaß haben, und das hatte ich auch. Eigentlich war ich schwach, aber gleichzeitig spielte ich mich auf und tat so, als wäre ich cool, und das Zusammensein mit meinen Freunden war mir das Wichtigste. Auf den Straßen der nächtlichen Stadt mit ihren Neonlichtern fühlte ich mich zu Hause. Ich war eben noch sehr jung und folgte ganz meinem Herzen und tat das, wozu ich Lust hatte, mehr nicht.
»Vermutlich werde ich nicht mehr dazukommen, aber vielleicht könntest du Fujisawa-sans Grab suchen und sie besuchen?«
»Natürlich.«
Tantchen Fujisawa, die mein Vater im Krankenhaus kennengelernt hatte, hatte so viel für uns getan, aber nachdem Vater entlassen worden war und es mit unserer Familie abwärtsging, konnten wir sie nicht mehr besuchen. Danach hatten wir über mehrere Ecken gehört, dass sie gestorben sei, nachdem sie noch mehrmals die Klinik gewechselt hatte. Wie mein Vater dachte auch ich noch oft an sie – wir waren uns also doch in manchem ähnlich, und das machte mich glücklich.
Kurz nach unserem Gespräch ging es mit Vaters Gesundheit immer schneller bergab. Eines Tages sagte er zu mir: »Takamitsu redet nicht viel, aber er ist ein guter Mann. Du musst zu ihm halten, denn er kümmert sich wirklich gut um dich. Bring ihn das nächste Mal mit, ich möchte mit ihm reden. Ich habe es nie geschafft für euch beide da zu sein, wie ein Vater es eigentlich tun sollte.«
Ich hatte ihm die Scheidung bisher verheimlicht, hatte aber angenommen, dass er davon wusste. Seine Tätowierung, Jibo Kannon, die Göttin des Mitgefühls, wachte stets mit den wachsamen Augen einer liebevollen Mutter über mich.
Vielleicht wusste er deshalb, was tief in meinem Inneren in mir vorging.
»Dann kommen wir nächste Woche zusammen.«
»Das wäre schön.«
Er lächelte mit den Augen und winkte mit seiner dürren, weißen Hand.
Eine Woche später kam ich zusammen mit Takamitsu am Bahnhof in Yokohama an, denn ich wollte das Versprechen halten, das ich Papa gegeben hatte. Am Bahnhof nahmen wir ein Taxi und fuhren dann schweigend zu Maki. Vor dem Haus stand ein Krankenwagen mit offenen Türen.
Lass es nicht mein Vater sein, dachte ich. Da sah ich aber schon Maki, die weinend hinter einer Trage, die von zwei Krankenpflegern getragen wurde, die Treppe herunterlief. Ich sprang sofort aus dem Taxi, rannte zu ihnen und rief: »Papa! Ich bin’s, Shoko! Kannst du mich hören?«
»Shoko, du musst Maki verzeihen«, hauchte er und schloss die Augen, als würde er einschlafen. Im Krankenhaus kam er sofort auf die Intensivstation.
»Bitte warten Sie draußen. Ihr Vater ist zu schwach, um jetzt mit Ihnen zu sprechen.«
Der Arzt hielt uns mit der Hand auf und zog die Tür hinter sich zu. Hinter der Glastür rannten Ärzte und Schwestern hektisch hin und her. Maki setzte sich in die Raucherecke und flüsterte nur: »Papa … Papa …« Sie zitterte.
»Shoko, ich habe Papa nur Kummer gemacht …«
Ich lehnte mich an eine Wand und ließ mich langsam zu Boden gleiten. Plötzlich öffnete eine Krankenschwester die Tür und rief: »Kommen Sie, schnell!« Doch im selben Moment ertönte auch schon das Piepsen des Elektrokardiogramms – Herzstillstand. Die Pulskurve verwandelte sich in eine gerade, horizontale Linie, und der Arzt sah auf die Uhr.
»Zeitpunkt des Todes: zehn Uhr, zwölf Minuten.«
Nur sechs
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