Ich Töte
Nathan Parker, dem seine Frau in der letzten Zeit vollkommen gleichgültig geworden war, ebenso wie sein Anspruch auf Helena. Sicher nicht Hanneke, die es sich, immer unterwegs, mit ihrem Geld und ihren Verehrern gut gehen ließ.
Zurück blieben zwei Mädchen, die wie Geiseln des Schicksals für Fehler büßen mussten, die sie nicht begangen hatten. Arijane verließ das Haus, sobald sie volljährig war, und landete nach einigem Hin und Her in Boston. Der Konflikt mit dem Vater hatte sich verschärft, je älter sie wurde. Helena hatte zeitweise entsetzliche Angst, dass ihrer Schwester dasselbe geschehen könnte, was sie selbst erdulden musste. Manchmal studierte sie heimlich das Gesicht ihres Vaters, wenn er mit Arijane sprach, um zu prüfen, ob in seinen Augen dasselbe Licht flackerte, das sie mit der Zeit kennen und fürchten gelernt hatte. Auf der anderen Seite, und dafür hatte sie sich verflucht, hoffte sie manchmal inständig, es möge doch geschehen, damit sie nicht mehr tief in der Nacht die Schritte des Vaters hören müsse, die sich ihrem Zimmer näherten, nicht mehr seine Hand spüren müsse, die das Laken hob, nicht mehr sein Gewicht in ihrem Bett spüren müsse, nicht mehr spüren müsse, wie …
Sie schloss die Augen und schauderte. Jetzt, wo sie Frank kennen gelernt und begriffen hatte, was zwei Menschen wirklich verband, wenn sie miteinander schliefen, wurden ihr der Horror und der Ekel vor dem, was sie in all den Jahren erlebt hatte, in vollem Umfang bewusst.
Frank war der zweite Mann in ihrem Leben, mit dem sie geschlafen, und der erste, den sie geliebt hatte.
Das Erdgeschoss war von Licht durchflutet. In keiner anderen Ecke der Welt gab es ein solches Licht. Irgendwo in dieser Stadt lebte Frank in demselben Licht, und vielleicht verspürte er gerade jetzt dieselbe Leere. Sie fühlte sich, als sauge ihr eine Maschine die Luft aus dem Leib und zöge ihre Haut mit Gewalt an die Knochen, um eine Implosion herbeizuführen. Obwohl im selben Moment eine genau gegensätzliche Kraft in ihr wirkte, nämlich die grenzenlose Sehnsucht, alles, was sie in sich trug, explodieren zu lassen.
Helena ging den Flur entlang und auf die Fensterwand im Wohnzimmer zu, die zum Garten hinausführte. Sie kam an der Tür des Zimmers vorbei, in dem die Telefone eingeschlossen waren. Kurz darauf blieb sie stehen. Hier, bei der Tür, in der sie jetzt stand, hatten Frank und sie sich an jenem Abend, als Ryan verhaftet worden war, lange in die Augen gesehen. Und in dem Moment war es geschehen.
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Ob es ihm wohl genauso gegangen war? Seine Augen hatten nichts preisgegeben, doch eine Intuition, wie nur Frauen sie haben, verriet Helena, dass in diesem Augenblick alles zwischen ihnen angefangen hatte.
Nichts wünschte sie sich sehnlicher, als ihn jetzt hier zu haben und ihn danach zu fragen.
Sie zog ein Handy aus der Tasche. Frank hatte es ihr an jenem zweiten gemeinsamen Abend gegeben, als er überstürzt hatte aufbrechen müssen, um Celine die Nachricht vom Tod seines Freundes zu überbringen. Sie dachte an das Krankhafte ihrer Situation, die sie dazu zwang, einen Gegenstand, der für den Rest der Welt absolut alltäglich war, wie ein kostbares Geheimnis zu hüten.
Sie wählte Franks Handynummer, die er für sie eingespeichert hatte. Eine automatische Ansage informierte sie, dass der gewünschte Gesprächspartner zurzeit nicht erreichbar sei, und forderte sie auf, es später noch einmal zu versuchen.
Bitte, Frank, jetzt darfst du mir nicht entwischen! Wer weiß, wie viel Zeit mir noch bleibt. Es macht mich verrückt, dass ich dich nicht sehen kann, und ich möchte wenigstens mit dir reden …
Sie drückte eine andere Taste, die Nummer der Polizeizentrale.
Fast sofort drang die Stimme der Telefonistin an ihr Ohr.
»Sûreté Publique, bonjour.«
»Sprechen Sie Englisch?«, fragte Helena etwas besorgt.
»Natürlich, Madame. Was kann ich für Sie tun?«
Die Antwort kam auf Englisch, aber das Wort »Madame« hatte sie französisch ausgesprochen. Noblesse oblige. Helena atmete erleichtert auf. Wenn es nicht sein musste, vermied sie akrobatische Verrenkungen in einer Sprache, die sie nicht beherrschte. Hanneke hatte ihr und Arijane Deutsch beigebracht. Die zweite Frau ihres Vaters hatte einen Horror vor dem Französischen, das für sie eine Sprache von Homosexuellen war.
»Ich möchte mit FBI-Agent Frank Ottobre sprechen.«
»Einen Moment, Madame. Wen darf ich melden?«
»Helena Parker, bitte.«
»Einen
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