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Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Titel: Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)
Autoren: Kelle Groom
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Zettel herausnimmt. Der erste Zettel, der vorgelesen wird, beschreibt eine Szene aus einem Albtraum. Ich sehe sie, als wäre es ein Film. Ein paar Jungen hängen einen anderen Jungen auf, nicht um ihn zu töten, sondern um ihm Todesangst einzujagen. »Wer hat das geschrieben?«, fragt die Psychologin. Einer der farblosen jungen Seeleute hebt die Hand. Sein Haar ist sandfarben. Er erzählt, und ich sehe, wie der Junge gefesselt wird, ähnlich einem Tier, bevor man es brät, wie ihm etwas über den Kopf gezogen wird, etwas um seinen Hals festgezogen, wie seine Füße vom Boden abheben. Dann haben sie ihn runtergelassen. Aber der Junge ist vor Angst gestorben.
    »Wir waren unter achtzehn, wir wurden nicht als Erwachsene angeklagt«, sagt der Seemann. Niemand kam wegen Mordes vor Gericht.
    Ich weiß nicht, was die Sozialarbeiterin zu dem Seemann sagt oder was der Sinn der Übung ist, ob die Anonymität der Anwesenden aufgebrochen werden soll. Aber der Korb wird weitergereicht. Ein Seemann liest: »Ich habe meinen jüngeren Bruder gezwungen, mir einen zu blasen.« Alle schütteln sich.
    »Wer hat das geschrieben?«, fragt die Sozialarbeiterin. Mein Freund hebt die Hand. Ich habe ihn hier kennengelernt. Er ist verheiratet. Ich habe nicht vor, ihn für immer zu behalten, ich muss ihn nur anfassen können, damit ich die Verbindung zu dem hier nicht verliere. Er ist klein, wie ein Spielzeugmatrose. Bei Busfahrten zu einem AA -Treffen außerhalb des Stützpunkts sitzen wir nebeneinander mit einer Decke über den Knien und flüstern miteinander, machen die anderen Seeleute eifersüchtig. Nachts kennen wir die Zeiten der Sicherheitswärter und treffen uns am Eingang zum Sex. Das Holz hart an meinem Rücken, wie eine Anweisung. Aber dieses Bekenntnis ist mir neu. Als mein Freund in der Gruppe über das auf seinem Zettel spricht, ist er ein Schatten in einem Haus, sein Bruder ist auch ein Schatten. Mir krampft sich der Magen zusammen. Er weint. Ich distanziere mich von ihm, als wäre er ein Fremder, der im Fernsehen weint. Sein Bruder im Hintergrund. Danach küsse ich seinen verbrecherischen Mund.
    Der Korb macht weiter die Runde. Vier Männer haben jemanden vergewaltigt. Wenn mein Zettel vorgelesen wird, werde ich mich zu erkennen geben. Dabei ist das gar nicht nötig. Auf meinem Zettel steht: »Mit elf Jahren habe ich mit Babysitten angefangen, und wenn das Baby weinte oder nicht schlafen wollte, habe ich es geschlagen.« »Das kann nicht das Schlimmste sein«, sagt jemand. Anscheinend wirft der ganze Kreis mir vor zu lügen. Ich kann ihnen nicht erklären, wie sehr ich die Macht haben wollte, jemanden, der wehrlos war, zu schlagen, wie gern ich trösten wollte. Ich möchte sagen, dass ich mir manchmal wünschte, das Baby würde nicht weinen, und dann wieder, dass es weinte. Dass ich Angst hatte, weil ich es schütteln und mit strenger Stimme zu ihm sagen wollte: »Hast du mich gehört?« Dass es mir Angst machte, es bestrafen und gleich darauf trösten zu wollen. Dass ich das Gefühl hatte, gebraucht zu werden. Die Seeleute finden nicht, dass mein Verbrechen schwer genug ist. In gewisser Weise bin ich erleichtert – vielleicht ist es nicht so schlimm? Aber es ist zu schwer zu erklären, den Seeleuten, der Sozialarbeiterin, ich kann ihnen nicht überzeugend darlegen, warum es das Schlimmste ist.
    Ich bin noch nicht imstande, diese Spur zu verfolgen, ich kann noch nicht die Verbindung zwischen dieser Tat und dem Verlust meines Sohnes verstehen. Ich verstehe noch nicht, was ich verloren habe, bloß weil ich Angst vor einem Gen der Kindesmisshandlung in mir hatte und glaubte, meine DNA sei so programmiert, dass ich meine Hand gegen einen anderen Menschen erheben würde. Weil ich Angst vor mir selbst hatte. Deshalb habe ich Tommy zu Leuten gegeben, denen ich vertraute. In der Gruppe sehe ich diese Spur nicht, ich verstehe nicht, dass ich schon bestraft worden bin.
    An meinem ersten Tag im Therapiezentrum musste ich den Arzt aufsuchen. Er hielt meinen linken Arm hoch, dessen Unterseite von Schlüsseln blutig geschürft war. Lange rote Striemen nahe der Landschaft meines inneren Handgelenks, den blauen Flüssen unter der Oberfläche. Als hätte ich versucht, mich selbst aufzuschließen. »Weißt du auch, dass das verrückt ist?«, fragt der Arzt. Auf seinen beiden Schultern Kordeln in einem ordentlichen Kästchen. Schwarze V weiter unten auf seinen Ärmeln, wie Vögel im Flug. Ich lächle ihn an. Mir kommt es nicht verrückt vor; der
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