Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)
Fußballspiel ab und geht ans Telefon. Er stützt sich auf die Frühstückstheke. Ich höre mit halbem Ohr zu. In den Gesprächsbrocken höre ich Marks Namen, den von Julia. Die Stimme meines Vaters bricht. Er legt die Hand an den Kopf, dann an die Stirn. Ich sehe ihn an. Es klingt, als würden sie ihm erzählen, ein Bekannter von ihnen in Massachusetts sei krank. Ich sage mir, dass es wahrscheinlich der Mann seiner Mutter ist – ihr zweiter oder dritter. Er ist alt. Ich kenne ihn nicht, aber seit er vor Jahren einen Autounfall hatte, ist er Invalide. Ich hoffe, es ist nicht die Mutter meines Vaters, Nana Smith. Auf der Seite meines Vaters gibt es so viele Verwandte, dass ich nicht weiß, wer. Es könnte jeder von ihnen sein.
Mein Vater legt auf. Er senkt den Kopf und schließt die Augen. Er macht den Mund auf, um zu sprechen, macht ihn wieder zu. Nach ein paar Augenblicken sieht er auf die quadratische weiße Uhr an der Wand. Sie hängt neben dem Telefon.
Er sagt: »Der Kleine hat Leukämie.« Welcher Kleine? Ein Neffe, ein Verwandter, jemand, den ich nicht kenne? Wer? Fragen in meinem Inneren, um meine Angst zu dämpfen. Ich starre meinen Vater an. Er gibt mir keine weitere Information. Ich denke: Es ist nicht mein Kind, es ist nicht Tommy. Er ist gesund. Er ist ganz gesund und noch ein Baby. Lass es jemand anders sein. Ich frage nicht laut.
Vielleicht kann mein Körper, mein Traum, meine wandernde Seele uns, meinen Sohn und mich, nicht unterscheiden. Er kann uns deutlich sehen, wie John, den Koch, und das Mädchen in meinem Traum, aber er denkt, wir sind ein und dieselbe Person. Auf unseren Kinderfotos sind wir dasselbe Kind, eins schwarz-weiß, das andere in Farbe. Vielleicht hält meine Seele beide Bilder hoch und wandert zwischen den beiden Kindern hin und her. Aber es war kein Traum, ich habe nicht geschlafen. Der Fels in meiner Brust hat mir gesagt, dass mein Sohn stirbt, wenn ich wach bin. Vielleicht war es die Seele meines Sohnes, die zu mir gewandert kam und mir die Nachricht überbrachte, ohne das Wort Mom zu kennen,
Ma,
er könnte
Ma
sagen.
Das Schlimmste, das passieren kann
Es ist 1982 , das Jahr, in dem mein Sohn stirbt, und ich sitze mit fünfzehn alkoholkranken Seeleuten im Kreis. Sechs Wochen lang sollen wir zusammen ein Alkohol-Therapieprogramm der US Navy machen. Ich bin an der Universität eingeschrieben, gehe aber nicht zu den Kursen. Die Seeleute sind hier, weil sie sonst womöglich ihre Stellen verlieren. Ich bin dabei, weil ich jung genug bin, um als abhängiges Familienmitglied eines Militärangehörigen zu gelten. Alles ist von der verwaschenen Farbe des Mondes, blass und silbrig: Wände, Decken, Stühle. Die Seeleute müssen nicht in Uniform kommen. Die meisten tragen Jeans oder helle Hosen. Sie alle haben Stoppelhaare, wie ein Flugfeld. Sie sind in den Zwanzigern oder Anfang dreißig. Ich weiß, dass ich, als ich mit der Therapie anfing, ein Zimmer mit einer Tür hatte, die sich öffnen ließ, aber in meiner Erinnerung sehe ich mich hinter Gittern, die vom Fußboden bis zur Decke reichen. Ein mondfarbenes Gefängnis.
Wir machen Gruppentherapie. Die Sozialarbeiterin in unserem Kreis hat einen Korb voller Zettel und ein paar Kugelschreiber auf dem Schoß. »Ich möchte, dass ihr das Schlimmste, was ihr je getan habt, aufschreibt«, sagt sie. Sogar die Seeleute fürchten sich vor der Sozialarbeiterin – sie nennen sie Muttergottes. Sie ist groß und selbstbewusst, dunkelhaarig und hat ein großes Lächeln mit vielen Zähnen. Ihr offener Blick kratzt an unserer Oberfläche, an unserer Schale. Nicht unfreundlich. Am ersten Tag lachte sie erkennend, als ich vor ihr stand, und nannte mich ein sexuelles Kind. Die Seeleute und ich sind wie Glasscheiben um sie herum. »Schreibt es auf, faltet das Papier zusammen und legt es in den Korb. Keine Namen.« Niemand will das Schlimmste noch einmal durchgehen oder es aufschreiben. Ich habe meinen Zettel in der Hand. Er scheint zu klein. Nicht größer als die Briefchen, die man sich in der Schule zusteckt.
In der Gruppe schreibe ich auf meinen Zettel das Schlimmste, was ich je getan habe – dass ich, als ich in der sechsten Klasse war, das Kind in meiner Obhut geschlagen habe. Ich falte den Zettel zusammen. Als der Korb zu mir kommt, das Geflecht in meiner Hand, lege ich den Zettel hinein und gebe den Korb weiter an den Mann rechts von mir. Als der Korb bei der Sozialarbeiterin ankommt, schickt sie ihn wieder los, diesmal, damit sich jeder einen
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