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Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Titel: Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelle Groom
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kann, kein Zimmer finde, in dem ich mich verstecken kann. Pauline sieht es kommen und greift nach der Schachtel mit den Papiertüchern. Ich zupfe sie heraus wie einen endlosen weißen Schal bei einem Zauberkunststück. Das Wohnzimmer ist wie ein Karussell – ich weiß nicht, wohin ich gehen kann. Ich würde ins Bad rennen, zur Haustür, aber ich drehe mich im Kreis. Mein Gesicht ist heiß und rot, alles verschwimmt. Ich will einfach nur weg, will nie wieder herkommen, will Pauline, die auf der Kante ihrer Couch sitzt, nie mehr sehen. Aber sie versucht nicht, meinen Tränenfluss zu bremsen, und weil sie still abwartet, hat mein Atem Zeit, sich zu beruhigen, und die Scham brennt nicht mehr so stark.
    »Möchtest du andere Zimmer sehen?«, fragt Pauline. Ich bin dankbar, dass sie so tut, als hätte ich die innere Ruhe, mit ihr durchs Haus zu gehen. Pauline führt mich weiter herum. Wir gehen durch einen der türlosen Türrahmen in ein Zimmer mit Verkleidungssachen, Sandformen, Spielzeug. Sie sagt, den Ehrenamtlichen werde beigebracht, zu sehen, was ein Kind tut, und es laut auszusprechen. Zum Beispiel:
Ich sehe, dass du einen lila Hut trägst.
Oder:
Ich sehe, dass du mit zwei Cowboys spielst.
Sie sagt, das Kind will das am meisten – dass man es beachtet. Ich weiß nicht, ob Pauline mir die Geschichte erzählt hat oder ob sie in dem Video vorkam: Ein Junge füllt Plastikbecher randvoll mit Wasser aus einer Wanne, ist sehr achtsam, als würde er eine Tasse mit heißem Kaffee durch ein Zimmer voller Menschen tragen, achtet auf jeden Tropfen, passt beim Gießen und Füllen genau auf, die ganze Zeit. Jemand könnte sagen: »Du füllst den orangefarbenen Becher.« Er hatte seine Schwester mit heißem Wasser im Bad verbrüht. Aber jetzt erinnere ich mich nicht mehr an die Schwester, ob sie lebt oder tot ist. Ich kann nur den kleinen Jungen sehen, der es richtig machen möchte, sie retten möchte. In dem Zimmer sehe ich eine leere Badewanne, aber da war keine. In dem Zimmer sehe ich den kleinen Jungen.
    Als Pauline mich zu meinem Auto bringt, lehne ich mich einen Moment dagegen, stütze mich an ein vertrautes Objekt. Sie fragt, ob ich zu ihr zum Essen kommen mag, mit ihr, ihrem Mann und dem Bruder ihres Mannes. Später sage ich zu ihr: »Ich wollte es nicht glauben, dass du mich zu dir einlädst, nachdem ich diesen Zusammenbruch hatte.«
    »Da wurde mir klar, dass ich dich mag«, sagt sie.
    Sie hat mich bemerkt. Als ich 2009 in dem Zentrum für Künstler arbeite, sehe ich ein Kind allein in dem Amphitheater tanzen. Sie fragt: »Siehst du auch zu? Siehst du auch zu?« Und tanzt erst weiter, als der Vater, der dabeisteht, nickt: Ja.
    In El Paso fange ich an, mich bemerkbar zu machen. Von der Küste abgeschnitten, ohne einen Strand, der zu Fuß zu erreichen ist, bin ich einsamer denn je. Hier wird jemand von mir zu hören verlangen und sich nicht abweisen lassen. In dem quadratischen gelblichen Zimmer des Militärkrankenhauses auf dem Stützpunkt. Eine Couch, auf der man wartet, bis man dran ist. Ein Gesundheitsproblem, ich weiß nicht mehr, welches. Überall Militär. Meine Mutter sitzt neben mir, vor sich ihre Karteikarten, auf denen sie mit Bleistift die Dinge notiert hat, die sie nicht vergessen will. An der Wand hängt ein Plakat, das Verhütungsmittel vorstellt. Aufregend – bald kann ich die Kindheit hinter mir lassen, bin ich frei. Aber ich bin erst in der achten Klasse. Ich stelle mir Sex als eine Art Heirat vor, etwas Weißes.
    Ich werde bei meinem Nachnamen aufgerufen, »Groom«, und gehe mit meiner Mutter ins Behandlungszimmer. Ich bin südlich von dem Arzt oder nördlich. Der Arzt ist in der Mitte, meine Mutter steht vor ihm. Ich bin in einem anderen Quadranten. Eine Dichterin sagte einmal, es sei merkwürdig, dass wir zwei Augen hätten, einen Mund. Ich weiß, was sie meint, der Mund könnte eine Wunde sein, ein aufgeritztes Blütenblatt. Der dunkle Blutfluss.
    Der Arzt fragt, was mir fehle, und meine Mutter erklärt es ihm. Er fragt mich: »Wie geht es dir jetzt?«, und wieder antwortet meine Mutter. Ich weiß noch, wie er sich mir zuwandte, mir ins Gesicht sah, wie er sagte: »Nein, ich möchte es von Kelle hören.« Könnte ich ein Instrument spielen, würde ich für ihn hineinatmen. Das Mundstück auf meinen Lippen, von den Lippen umschlossen. Die Mündung eines Flusses.
    Ich wollte ihm erzählen, dass es immer jemanden gab, der alles besser machte als ich. Besonders meine Mutter. Ich durfte die Küche nicht

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