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Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Titel: Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelle Groom
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benutzen, durfte nicht kochen; nie habe ich einen Teller abgewaschen; die Waschmaschine und der Trockner waren mir verboten; ich machte nie sauber. Mir fehlte praktisch alle Lebenstüchtigkeit. Überall im Haus lagen weiße Karteikarten mit Anweisungen wie: »Nicht berühren!«, mit Tesafilm an die Klimaanlage geklebt. Die Schule war meins, Bücher. Stille. Ich sehe den Arzt an, sein Gesicht, an das ich keine Erinnerung habe – die warme Farbe, er war nicht alt. Wie er auf dem runden silberfarbenen Sitz sitzt, nachdem er ihn zu mir gerollt hat, mir ins Gesicht sieht. Erregung durchströmt mich. Das hat er nicht gemeint. Meine Stimme ist so weit hinten, so ungeübt.
    Ich weiß nicht, ob ich ihm etwas erzähle, in einer stammelnden, unbeholfenen Ansammlung von Wörtern, oder ob ich es meiner Mutter überlasse. Aber er hat mich gefragt, meine Stimme ist die, die er hören will, unaustauschbar. Unartikuliert. Sie ist bedeutungslos, die Definition, wer die Beste ist, die Kompetenteste – was immer das ist, ich bin es nicht. Gerade jetzt entscheidet nicht Fähigkeit, wer sprechen darf. »Ich möchte es von Kelle hören.« In meiner Brust eine Spiralbewegung, tief unter meinem Herzen, und nach oben, ein Staubsturm, eine Energie, die in meine Kehle, meinen Mund strebt.
    Er ist Militärarzt, tüchtig, distanziert, ziemlich kühl. Ich komme mir vor wie etwas auf einer Glasplatte, auf einem Tisch, als er mich untersucht. Aber er weiß, dass es falsch ist, wenn ein anderer für einen spricht, ich bin ja vierzehn. Wenigstens weiß er, dass ich Informationen über mich selbst habe.
    Ich will nicht über sie sprechen, über alle, die um mich herum sprechen, und ich kreise um ein Buch auf meinem Schoß und versenke mich hinein. Gehe in diese Welt, mit dem Wirbel meiner Familie um mich herum. Der gelbe Bleistift liegt auf dem runden Küchentisch. Und ich habe, so fühlt es sich an, nicht die Macht, ihn mir zu nehmen. Sitze auf dem Stuhl und hefte meinen Blick darauf, kann aber nicht danach greifen. Als müsste jemand anders ihn mir geben. Der Bleistift könnte auf dem jenseitigen Ufer des Flusses liegen. Ich könnte eine Wolke sein. Ein Anzeichen für Stille. Hier sind die Wolkenwälder: Ein Essen an einem langen Tisch mit der Familie, bei der ich die Sommer verbrachte. Wir sitzen an beiden Seiten des Tisches. Jemand richtet das Wort an mich, stellt eine Frage von der anderen Seite des Tisches. In der Überraschung öffnet sich mein Mund. Aber keine Wörter kommen heraus. Es ist anders, wenn ich allein bin und dann gefragt werde – auch wenn ich mich verhasple, ich kann mich nicht vollends verschließen. Aber hier bin ich umkreist. Eine Verwandte sagt: »Kelle spricht nicht gern. Wir sprechen für sie.« Und sie beantwortet die Frage des Fragestellers. Ein leises Lachen erweckt den Eindruck, dass es niedlich ist und keine Krankheit. Der Fragende hat wahrscheinlich gefragt, ob ich gern zur Schule gehe oder wie alt ich bin, und das sind Fragen, die die anderen beantworten können. Aber wenn jemand anders für mich spricht, empfinde ich nicht nur Erleichterung, sondern es ist, als würde ich rückwärts ins Dunkle fallen, als wäre ich ein Porträt, und sie wären die Lebenden.
    Nachdem Tommy gestorben war und ich vergeblich versucht hatte, nicht zu trinken, ging ich öfter zu einem Treffen in St. Richard’s, einer Kirche in einer ruhigen Gegend. Ein großes Treffen mit vielen Menschen meines Alters, mit jungen Leuten. Danach, draußen auf dem Gehweg oder der Straße, gehe ich neben jemandem, der älter ist und mir etwas beibringt. Er sagt: »Du hast keine Umgangsformen.« Er sagt es so, wie man sagt: »Du hast nichts anzuziehen.« Ich will protestieren. Ich glaube, er will sagen, dass ich sie mir aneignen kann, wie man sich das Malnehmen oder Teilen aneignen kann. Aber er sieht mich an, wie der Arzt in El Paso mich angesehen hat, wie etwas auf einem Seziertisch. Seine Kälte verhindert, dass ich ihn etwas fragen kann, ihn um Hilfe bitten kann. Ich habe das Gefühl, als würde das Seile und Kletterübungen erfordern, Gruppenaktivitäten, bei denen jeder danach giert, bemerkt, gesehen zu werden. Wettbewerb. Als ich wieder anfange zu trinken, kann ich auch sprechen. Die Angst ist aufgebrochen. Wenn ich trinke, brauche ich andere Menschen und verstecke das nicht – es fühlt sich an, als würde ich zu den Lebenden stoßen, den Sprechenden. In El Paso gibt es Wolkeninseln in den Bergen über der Wüste – so fern, dass sie ihre

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