Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)
und Disteln. Der Garten vom Wind verwirbelt. Mit vierzehn Jahren konnte ich in meinem Zimmer in El Paso die Dunkelheit draußen hören. Im Garten ist eine Wüste. El Paso ist das Gegenteil von allen anderen Orten, wo ich je gelebt habe. Kein Meer. Nie zuvor habe ich so weit im Landesinneren gelebt. So weit von der Küste entfernt zu sein ist, als würde ich die Luft anhalten, als würde ich ersticken. Es hilft, wenn ich mir ein Foto vom Meer ansehe, wenn ich es so lange anstarre, bis ich drin bin. Wie bei einem Buch.
Meine Eltern sind vor uns in den Westen gezogen und haben uns ein Zuhause geschaffen, während mein Bruder und ich den Sommer bei unseren Großeltern mütterlicherseits auf Cape Cod verbrachten. Fast jeden Sommer, wo immer ich lebe, kehre ich zu ihnen zurück. Ich bleibe mindestens einen Monat, manchmal länger. Wenn ich bei ihnen bin, weiß ich, dass ich geliebt werde, was auch immer geschieht. Es finden häufig Grillfeste statt, mit Verwandten, die ich nur im Sommer sehe. Manchmal erblickt ein Verwandter mich im Garten, sagt ein paar Worte, bringt mich zum Lachen.
In jenem Sommer, wenn jemand mich auf dem Rasen entdeckte und mit mir allein sprach, wurde ich klar sichtbar. Wurde stofflich. Jemand nannte mich Wolkenmädchen. Jemand anders nannte mich Meermädchen. Im Sommer verbrachte ich jeden Tag viele Stunden im Meer, Stimmen riefen, ich solle rauskommen, mich abtrocknen, etwas essen, nach Hause gehen. Wenn ich loslasse, trägt das Meer mich. Ich treibe auf dem Rücken und lausche der leisen blauen Stimme. Unter Wasser kann niemand an mich heran.
In der Gesellschaft Erwachsener sagte ich nicht viel. Nur wenn jemand mit mir sprach, schien ich in der Welt zu existieren. Meine Antworten waren immer ein Gestammel, aber ich war froh, wenn jemand mich ansprach, wenn ich inmitten des Unsichtbarseins sichtbar wurde.
Auch als Erwachsene, auch trocken, komme ich mir oft unsichtbar vor. 1999 – ich habe eine Stelle bei einer Operngesellschaft – lerne ich bei einer morgendlichen Besprechung für die Mitarbeiter von Kulturorganisationen in Central Florida Pauline kennen. Sie stützt sich auf die Rückenlehne eines Stuhls im Zuschauerraum und lacht. Ihr Gesicht leuchtet, eine Gruppe hat sich um sie gebildet. Als wir gebeten werden, uns für die bevorstehende Aufgabe zu zweit zusammenzutun, sieht Pauline mich an. Ich spüre, wie ich vor ihr entstehe, wie ich fester Stoff werde. Sie erwählt mich.
Sie lädt mich zu ihrer Arbeitsstelle ein, in ein Zentrum für Kinder in Trauer. Eigentlich habe ich einen egoistischen und heimlichen Grund, dass ich sie dort besuche. Ich möchte erfahren, wie man trauert.
Das Zentrum ist ein dreigeschossiges Haus, die vielen Zimmer haben Holzfußböden. Die Büros sehen aus, als wären sie Teil der Schlafzimmer, als könnte man bei der Büroarbeit zwischendrin ein Nickerchen machen. Pauline stellt mich den Mitarbeitern vor, dann gehen wir zwei in das, was früher das Wohnzimmer war – jetzt ist es der Empfangsraum. Sie will mir ein Video vorspielen und zeigen, wie es in den Trauersitzungen zugeht. Es ist still. Wir sitzen jede auf einer Couch, der Bildschirm ist rechts von mir, vor der Glaswand.
In dem Video sind nur Kinder zu sehen, in einem Kreis. Die Kamera richtet sich auf ein Kind, das gerade spricht. Dann ein anderes Kind. Bevor ich mich auf die Couch setzte, hatte ich Menschen die Hand geschüttelt, hatte gelächelt. Ich war Kollegin und Kulturtätige. »Ich interessiere mich für eine Tätigkeit als Ehrenamtliche«, hatte ich gesagt. Die Direktorin hatte gelächelt, eine kleine Frau mit einer sorgfältig aufgetürmten Frisur, ihr Kostüm eine Hülle in Pastell, bei deren Anblick ich an bunte Zuckereier denken musste. Man muss eine Ausbildung absolvieren, bevor man als Ehrenamtliche arbeiten kann. Das erscheint mir machbar.
Aber dann sitze ich allein bei Pauline und höre, wie das erste Kind in dem Video von dem Menschen zu erzählen beginnt, den es geliebt hat. Als das Kind mit ruhiger, gefasster Stimme spricht, weiß ich, dass das Kind weiß, der Mensch kommt nicht zurück. Und das Einzige, was man tun kann – man kann in einem Kreis sitzen und darüber sprechen. Ich versuche mir vorzustellen, was dem vorausgegangen sein muss. Der Hieb, der das Kind zum Verstummen gebracht hat. Die Worte des Kindes löschen die ganze Konstruktion aus, die ich im Inneren aufgebaut habe. Ohne dass ich es merke. Sodass ich mich, als das zweite Kind spricht, nicht an eine Wand lehnen
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