Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)
eigene Welt bilden. Bei Schnee fahren wir los, ein Wohnwagen an das Auto gekoppelt – drei Tage der Blick aus dem Fenster auf andere Autos, auf den Highway, auf Höhlen, die ich nie gesehen habe –, und als wir in Florida ankommen, auf einem anderen Militärstützpunkt die Türen aufstoßen, ist es warm. Wir sind nahe am Meer. Ich kann wieder atmen. Ich will mich nur ins Meer stürzen. Ich giere nach dem Salz. Es ist, als käme ich von einem fremden Planeten zurück, wo auch die wichtigsten Landschaftsmerkmale unterirdisch sind wie Gräber – Stalaktiten, Wasser, das aus Felsen gemacht ist.
Im Juli 1965 war ich das Blumenmädchen bei der Hochzeit des Bruders meiner Mutter auf Cape Cod. Ich war gerade vier geworden. Meine Mutter fuhr mit mir nach Boston und kaufte mir ein wunderhübsches blaues Kleid, das sich in Wellen bis zum Boden ergoss – ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens. Als ich allein auf dem Mittelgang nach vorn ging, trug das Kleid mich. Es war wie die Rückkehr zum Meer, nach den Monaten in der Wüste – ich war eins mit mir. Alle drehten sich nach mir um. Das, wie Pauline sagt, was ein Kind am meisten möchte. Es bedeutet, ich bin hier.
Als der Arzt in El Paso sich zu mir, der Vierzehnjährigen, umdrehte und mich aufforderte zu sprechen, wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass meine Stimme in der Welt der Erwachsenen eine Bedeutung haben könnte. Dass ich nicht machtlos und abhängig sein musste. Eine Energie war in mir aufgestiegen, aber ich wusste nicht, wie ich sie allein wecken konnte. Ich fühlte mich amorph, wie eine Wolke oder wie das Meer. Zu Hause, in der Schule, bei den Verwandten schien meine Passivität gut anzukommen. Ich machte keinen Ärger. Aber fünf Jahre später, als ich schwanger bin, erzähle ich niemandem von der Angst, dass ich meinem Sohn Schaden zufügen könnte; als er im Sterben liegt, bin ich nicht imstande, meine Tante und meinen Onkel anzurufen und zu fragen, ob ich ihn besuchen darf, nicht einmal, ob ich zu der Beerdigung kommen kann. Auch später, als ich in der Stadt, wo mein Sohn gelebt hat, Nachforschungen anstelle, weil ich etwas über Umweltgefahren und mögliche Hinweise auf die Ursachen für seine Leukämie erfahren möchte, stelle ich meine Fragen leise. Fast entschuldigend. In El Paso hatte ich zum ersten Mal versucht, für mich selbst zu sprechen.
Manchmal frage ich mich, ob es vielleicht gar nicht die Stadt war, die den Tod meines Sohnes herbeigeführt hat, oder dass ich ihn weggegeben habe. Ich frage mich, ob mein Schweigen sein Tod war. Dieses fortwährende In-mich-Zurückfallen, die Unfähigkeit, Wut und Ärger zu ertragen. Die Unfähigkeit, es auch nur zu versuchen. Hier, nimm es, meine Stimme, mein Leben, mein Kind, hier, nimm es.
Space City
1975 zog meine Familie von El Paso in eine Stadt am Meer in Florida. Ich wurde in der Junior Highschool angemeldet. Zum Glück wohnten noch ein paar Jugendliche meines Alters auf dem Stützpunkt. Ein paar gleichaltrige Mädchen, die sich trafen.
Auch bei Dunkelheit war es noch warm genug, um nackt im Meer zu schwimmen. Ein beutehungriger Meeresvogel sieht nachts nicht anders aus. Kein Mond. In der Schule würde es Bemerkungen geben, aber wen kümmerte es. Wir waren im Wasser. Bei Tage ist immer einer da, der einen einfangen und festbinden will, das Seil über dem Kopf schwingend. Eine Welle schlägt auf meiner Brust um wie ein Revers. Ich bin so klein, dass ich in der Hand des Meeres gehalten werden kann, und das Meer hält mich. Mit unserem Lachen orientieren wir uns im Dunkeln, eine jubilierende Echoortung. Noch hatte keiner das Messer auf mich gerichtet, eine Eintrittsstelle vorgezeichnet. Meine Großmutter sagte, Salzwasser könne alles heilen. Ich schwamm nie so weit hinaus, dass ich nicht zurückkam, das Meer voller Kreuze. Unter den Wellen gibt es nur ein einziges Lied.
Wir leben auf einer Riffinsel, umgeben von Fluss und Meer, treibend – nur eine Brücke führt an Land. Manchmal stehen wir abends an dem Baseballplatz zwischen unseren Straßen. Das gelbe Flutlicht taucht das Spielfeld in taghelles Licht. Das langweilige Spiel, die Jungen in Sportuniform. Im Stadion kann man klettern, die Bohlen sind wacklig. Unten sind die Damentoiletten, eine Höhle, mit Zeichnungen vollgekritzelt. Vier Mädchen und eine Flasche. Ein Junge muss sie uns gegeben haben, der ältere Freund eines der Mädchen. Es ist nur Bier, aber ich habe noch nie Alkohol getrunken. Ich habe Angst, die Kontrolle zu verlieren.
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