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Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Titel: Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelle Groom
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weil das Wasser verunreinigt war. Ein paar Jahre später erzählte mir meine Kollegin Anne aus heiterem Himmel, dass sie früher in der Nähe von Brockton gelebt habe und dass die Firma ihres Mannes ein Gelände in Brockton auf Schadstoffe getestet habe, weil dort ein Busbahnhof gebaut werden sollte, aber es war zu verunreinigt und eignete sich nicht für eine Bebauung. Dann sagte Sue, sie habe im
Boston Magazine
einen Artikel über die hohe Anzahl von Leukämie-Todesfällen bei Kindern in Brockton gelesen. Ich las den Artikel online. Ich meinte, dort sei von hundert Todesfällen die Rede gewesen. Innerhalb welcher Zeitspanne? Wie viele Kinder waren gestorben, seit Tommy gestorben war? Ein paar Monate später wurde ich zu einem Seminar über Geld eingeladen. Notorisch pleite, fuhr ich hin und wurde einer Frau vorgestellt, die mir erzählte, sie habe in Eigeninitiative ein Buch über ihren Sohn veröffentlicht, der in Brockton gelebt habe und an Leukämie gestorben sei. Sie sagte, sie glaube, sein Tod sei auf Umwelteinflüsse zurückzuführen. Auch ich hatte immer das Gefühl, dass mit der Stadt etwas nicht stimmte. Sie war so grau – der Himmel, die Bäume wie Strichfiguren, die sich in Panik streckten.
    Gegen Brockton wurde 2006 in Boston vom Commonwealth Massachusetts wegen Schadstoffbelastung des Wassers Klage erhoben, und die arme Stadt musste eine Strafe zahlen. Jetzt soll für 86  Millionen Dollar eine neue Abwasser- und Kläranlage gebaut werden. Aber ich denke nicht an Phosphor, Chlor, Kolibakterien, Ammoniak – ich denke an krebserregende Stoffe, todbringende Umweltgefahren. Ich denke an die Leukämie, die aus der Erde von Woburn, den Gerbereien, der Herstellung von Schuhleder stammte. An all die Kinder in Woburn, die an Leukämie gestorben sind.
    Jeden Sommer wollte ich zu meinem Sohn. Er war so nah. Wir waren am Cape Cod, bei den Eltern meiner Mutter auf dem Zeltplatz von Yarmouth, ein kreisrunder Platz mitten im Wald, ein Schienenstrang, der durch die Wiese hinter dem Haus und am Eingang zum Zeltplatz vorbeiführte. »Können wir heute nach Brockton fahren?«, fragte ich meinen Dad, »zu Tommys Friedhof?« Ich sagte nicht: zu seinem
Grab.
Wir flüsterten im Vordergarten, hinter uns die Dachgaube des Hauses, das dunkle Fenster, das mithörte. Ein Geheimnis. Als ich zu Tommys Beerdigung gehen wollte, hatte mein Vater gesagt: »Niemand weiß, woher er kommt.« Er hatte gesagt: »Ich sage nicht, dass du nicht hinfahren kannst, aber du musst seine Eltern anrufen und sie fragen, ob du dabei sein kannst.« Meine Verwandten. Tommys Adoptiveltern. Ich konnte nicht fragen. Ich bin nicht hingegangen. Auch ich bin ein Geheimnis, eine geheim gehaltene Mutter.
    Die Familie war im Haus, links neben dem Haus gab es einen Picknicktisch und einen runden Grill. »Alle werden wissen wollen, wohin wir fahren«, sagte mein Dad. Als wäre das ein guter Grund, nicht nach Brockton zu fahren. »Und ich weiß nicht, wie wir es finden sollen. Ich müsste erst fragen …« Wen würden wir fragen? Seine Verwandten, denen wir nicht wehtun dürfen, und wenn wir sie nach dem Weg fragen, tun wir ihnen weh. Wir würden sie daran erinnern, dass ich ihnen Tommy gegeben habe und dass Tommy gestorben ist. Mein Dad sucht den Boden mit Blicken ab, als hätte er mehrere Dinge auf einmal fallen gelassen. Und dabei bleibt es. Wir können uns nicht von den anderen absetzen, wir können ihnen nicht sagen, wohin wir wollen, wir können sie nicht nach dem Weg fragen, wir dürfen den Verwandten nicht wehtun. Die Fahrt nach Brockton dauert eine Stunde. Ich stelle mir vor, dass es die ganze Zeit bergauf geht, dass der Highway nach der Brücke, über die ich fahre, stetig ansteigt, an den Preiselbeerfeldern vorbei und den Mauern aus weißen Felsen, den Kiefern, die wie einzelne Kirchtürme sind. Als ich vom Cape wegfahre, sehen die Häuser traurig aus, bis ich nach Boston komme. Das Dazwischen. Brockton ist dazwischen.
    Ein paarmal hatte ich überlegt, allein dorthin zu fahren. Einmal habe ich meine Eltern in Nanas und Gramps Haus auf dem Zeltplatz zurückgelassen und den Plymouth-Brockton-Bus nach Boston genommen, um Frank zu besuchen, der früher mit mir in dem Naturkostladen in Florida gearbeitet hatte. Ich schlief mit seinen beiden Katzen auf dem Fußboden. Mein Bus fuhr am späten Abend zurück. Ich wollte nicht aus der Stadt weg, deshalb nahm ich den letzten Bus. Es war der 4 . Juli, um mich herum gingen die Leute einkaufen, bis es dunkel war.

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