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Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Titel: Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelle Groom
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diesen Sommer nach Brockton fahren soll. Seine Mutter, Nana Smith, ist wenige Wochen zuvor gestorben. Ich hatte sie besuchen wollen, hatte schon einen Flug gebucht. Aber sie starb. Ich kam zu spät. Ich kam auch nicht rechtzeitig zu ihrem Begräbnis. Ich unterschrieb in einem Gästebuch, das das Bestattungsinstitut im Internet eingerichtet hatte. Verwandte, die ich nicht kannte, unterschrieben auch. Jemand hatte ein Gedicht von Edna St. Vincent Millay abgeschrieben, über eine Frau, die auf einem dunklen Pfad verschwindet. Ich wusste nicht, dass es in meiner Verwandtschaft Menschen gab, die Gedichte mochten. Diese mir unbekannten Verwandten benutzten Spitznamen, die ich nicht kannte. Vielleicht ist mein Dad einfach traurig. Ich sollte ihn einfach traurig sein lassen. Seine Mutter ist gestorben.
    Im Blumenladen neben dem Friedhof in Calvary hat es gebrannt. Überall ist Asche. Meine Eltern fahren. Sie sind verstört von dem Brand. Ich muss Blumen kaufen. »Wir sind an einem Walmart vorbeigekommen«, sage ich. »Das ist zu weit zurück«, sagt meine Mutter gereizt. Wir kennen den Weg hierher noch nicht sehr gut, ohne Führer, ohne Nana Smith. Wir kommen langsam voran. Wir suchen nach einem Blumenladen in der unmittelbaren Umgebung, damit wir uns nicht verfahren. Mein Dad und ich gehen in ein heruntergekommenes Geschäft in einer heruntergekommenen Ladenzeile, wo Textilien auf Tischen auf dem Gehweg ausliegen. Mom wartet im Auto. In dem schäbigen Hausratsgeschäft ist ein freundlicher, dunkelhaariger Mann an der Kasse. Männer halten Holzlatten, sie stehen an der Kasse an. Die Haut von dem Mann an der Kasse hat die Farbe bläulicher Milch, als würde er nie an den Strand gehen, seine Augen sind rot gerändert, und als ich frage: »Wissen Sie, wo ich hier Blumen kaufen kann?«, sagt er: »Das ist eine gute Frage.« Fast fühlt es sich wie ein Kompliment an. Ich würde ihn gern zu einem Kaffee einladen, vielleicht mich mit ihm verabreden, aber ich wohne nicht hier. Und wenn wir hier zusammen lebten, wären wir so arm (er kann nicht viel verdienen), und selbst der Strom wäre schwach. Wir würden uns im trüben Licht am Tisch gegenübersitzen und überlegen, wie wir hier wegkommen könnten. Aber ich habe das Gefühl, dass ich an diesen dunklen Ort gehöre, dass ich mir hier ein Haus suchen sollte.
    Als wir weiterfahren, sagt Mom, vielleicht war es Dad, überrascht: »Das war doch Bradlees. Wo Nana Smith gearbeitet hat.« Das schäbige Geschäft war Bradlees, wo es Spielwaren gab. Ich war noch ein Kind, als ich meine Großmutter dort bei der Arbeit besuchte. Ich war durch die Schwingtüren gegangen, erst nach rechts, dann nach links, die Abteilungen wie ein Labyrinth, und da war sie, mit ihrem aufgetürmten Haar in einem Kittel. Mir kam sie großartig vor, ihre Arbeit: die ganzen Regale, zu wissen, wo sie stehen musste, wie sie helfen konnte, wie sie durch die Gänge gehen musste. Sie lebte auf der anderen Straßenseite und ging zu Fuß zur Arbeit. Sie wohnte 87  Howland Street, in einem blutroten Haus. Getrocknetes Blut. Der milchig-freundliche Kassierer ging durch die Gänge, so wie sie früher. Wo ich als Kind gegangen war. Meine Erinnerung ist schwarz-weiß, als wäre es ein Film.
    Der Kassierer beschrieb uns den Weg zu einem Home-Depot-Baumarkt, aber ich sah nur seine freundlichen Augen und achtete nicht genügend auf die Anweisungen, und wir kommen immer wieder in Sackgassen. Wir fahren den langen Weg zurück zum Walmart. Meine Eltern warten im Auto. »Mach nicht so lange«, ruft meine Mutter mir nach. Ich stamme von schnellen Menschen ab, aber ich selbst bin nicht schnell. Sie warten nicht gern. Es ist heiß für Massachusetts, schwül, und mein Vater schwitzt im Auto. Er mag es am Cape, die Brise. Für seinen Geschmack sind wir zu weit im Landesinneren. Ich kaufe schöne gelbe Blumen im Topf, sehr groß und glücklich. Die Kassiererin schneidet die verblühten Stiele ab. Sie sagt: »Die brauchen Wasser.« Als ich frage: »Haben Sie Wasser?«, sagt sie: »Warten Sie.« Sie greift unter die Theke, füllt die Flasche, aus der sie trinkt, und gießt Wasser auf die Pflanze.
    Auf dem Rücksitz im roten Auto meiner Eltern, glänzendes Bonbonrot, halte ich den Blumentopf auf dem Schoß, und das Gewicht ist wie das eines Kindes.
    Wenn ich meinen Sohn besuche, lege ich immer die Fingerspitzen in das Kleeblatt, das in seinen Grabstein gemeißelt ist. »Du süßes Kind«, sage ich. Als würde ich das Schlüsselloch in einer

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