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Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Titel: Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelle Groom
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Dann umringten sie mich in einer großen Parade. Mir gefielen ihre Stimmen, sie erinnerten mich an die ersten Stimmen, die ich in meinem Leben gehört hatte. Meinen Koffer ließ ich in einem Schließfach am Busbahnhof, bis ich einsteigen musste. Gegen zehn näherte sich der Bus Brockton, wo er halten würde. Ich wollte mit den wenigen Dollar, die ich hatte, aussteigen. Ich könnte meine Verwandten anrufen und sagen: »Ich komme euch besuchen.« Oder ich könnte die Nacht am Busbahnhof verbringen und sie am Morgen anrufen und nach dem Weg fragen. Oder ich könnte aussteigen und einfach gehen, meine Füße den Boden fühlen lassen, Fremde bitten, mir den Weg zu zeigen. Ich könnte die Nacht neben Tommy im Gras schlafen. Niemand würde mich da sehen. Es ist dunkel. Ich würde ein öffentliches Telefon finden und meine Eltern anrufen. Könnte sagen, ich bleibe noch eine Nacht in Boston.
    Ich bin im Bus nicht einmal aufgestanden. Habe nicht meine Tasche genommen. Der Bus beförderte mich einfach über die Brücke. Ladung. Einmal – um Zugang zu meinem Unterbewussten zu bekommen, um herauszufinden, was ich wirklich wollte – habe ich mit der linken, meiner nicht dominanten Hand geschrieben. Ich benutzte einen Buntstift. Dazu musste ich mir einen Karton Buntstifte kaufen. Als ich die erste Frage mit links schrieb, war es unsicher, wie von Kinderhand, als würde ich gerade Schreibschrift lernen. Die Frage lautete: »Warum gehst du nicht zu ihm?« Ich antwortete mit meiner rechten Hand und sagte, ich wollte, dass mein neuer Freund mitkam. Er war praktisch veranlagt, praktischer als ich. Aber als ich ihn fragte, sah er mich traurig an, als wäre ich ein Tier, eine seiner Katzen, und hätte Schmerzen. Er machte ein ganz bekümmertes Gesicht. Er nickte und hörte zu und wirkte überzeugt, er sah aus, als würde er mich für immer lieben. Er ging über die Straße zum College, in das Büro meiner Freundin, und erzählte ihr, wie sehr er mich liebte. Aber er machte nicht die kleinste Anstrengung. Er kam nicht mit. Ich schrieb wieder mit meiner linken Hand. Die zweite Frage lautete: »Du hast ein Auto, du hast Ferien. Warum fährst du nicht einfach hin?« Ich hatte ein Auto, das ich für fünfhundertfünfzig Dollar gekauft hatte, ein orangefarbenes Oldsmobile. Viele Leute fuhren mit alten Autos durchs Land. Sie benutzten Landkarten. Zweifellos würde ich mich verfahren. Ich war nervös, wenn es um das Lesen von Landkarten ging, um das Vertrauen in die roten und blauen Flüsse, ob sie mich ans Ziel bringen würden. Und wenn ich da war, müsste ich fragen: »Wo ist er? Wo ist mein Sohn?« Ich würde leise fragen, weil niemand wissen durfte, dass ich fragte. Es fühlte sich beschämend an, dass ich ihn finden wollte, wo es doch so schien, als hätte ich kein Recht dazu oder kaum ein Recht. Als wäre ich nur das Beförderungsmittel gewesen, das Behältnis. Nicht die richtige Mutter. Nicht eine der verantwortungsbewussten Personen, die quer durch das Land geflogen waren, um ihn zu holen, um tagein, tagaus für ihn da zu sein, ein Ehepaar, zu sich nach Hause. In eine Familie.
    Im Laufe der Jahre sind die Male, die ich meine Eltern gefragt habe, verschwommen. Aber 1998 saß ich mit Nana Smith im Auto, der Mutter meines Vaters, die ihr Leben lang in Brockton gelebt hatte. Sie wies uns den Weg nach Calvary. Von anderen gefahren zu werden ist eine Art Gefangenschaft – es ist schwer, den Weg zu erkennen, wenn ich nicht selbst fahre.
    Der Name des Friedhofs ist mit Steinen aufs Gras geschrieben. Die Buchstaben sind so groß, dass man sie vom Himmel aus sehen könnte, von einem kleinen Flugzeug, wie HILFE , das in Sand oder Schnee gezeichnet ist. Nana Smith half mir mit den Blumen. Ein Blumenladen war in der Nähe, und drinnen war der ganze Hof voller Blumen. Sie sagte, Tommy hätte rosa Nelken gern gehabt. »Er mochte die kleinen Blütenblättchen«, sagte sie. Ich kaufte Nelken und eine gelbe Rose. Meine Mutter kam mit einer Schaufel und Wasser in einer Plastikgießkanne.
    Mein Vater half mir beim Graben, aber als die Blumen gepflanzt waren, die Rose auf der Steineinfassung lag, kamen die anderen spontan überein, mich allein zu lassen, und entfernten sich, als hätten sie etwas vor. Ich vergrub meinen Silberfischring mit den türkisblauen Augen in der Erde. Er kam einem Spielzeug am nächsten. Ich weiß nicht, wann es geschah, wann ich seine Stimme hörte. Ich weiß, dass ich allein war. Ich versuchte, meinen Kopf hinter dem Grabstein zu

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