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Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Titel: Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelle Groom
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verstecken, dass meine Familie mich nicht sehen konnte, dass ich ungesehen bei meinem Sohn sein konnte. Ich wollte nicht Rücksicht nehmen müssen, wollte nicht die Ruhe bewahren – meine Aufmerksamkeit sollte ihm gelten, ich wollte mein Gesicht nicht regungslos machen, den anderen zuliebe.
    Ich hatte seine Stimme nur einmal gehört, bei seiner Geburt, als er geweint hatte. Und sein kleiner Atem, winzige, zufriedene Atemzüge, als ich ihn hielt. Sein Weinen, als ich ihn abgab. Und einmal, als Julia anrief und mit meinem Vater sprechen wollte, hörte ich ihn im Hintergrund – »Lalala«, sagte er. Er sang. Er war erst vierzehn Monate alt, als er starb. Er sprach nicht in Sätzen. Wie alt ist eine Seele? Und wie sprechen eigentlich die Toten? Wie kann man die Toten sprechen hören? Ich weiß es überhaupt nicht. Aber als ich da saß, allein im Gras, vor seinem Stein, da sagte er: »Da bist du ja!«, so voller Freude, wie ich es nie in meinem Leben vernommen hatte. Ich hatte befürchtet, er wäre böse auf mich, weil ich so lange gebraucht hatte, bis ich zu ihm kam. Weil ich nicht wusste, wie ich genügend Geld sparen sollte, um einen Flug zu buchen, um ein Auto zu mieten, weil ich nicht wusste, wo ich den Mut finden würde, um nach dem Weg zum Friedhof zu fragen, um ihn allein zu finden. Ihn zu besuchen. Aber er war überhaupt nicht böse. Ich hörte das an seiner Stimme, an der Freude. Er liebte mich. Ich war seine Mutter. Nie sonst, weder davor noch seitdem, habe ich die Toten gehört. Das Kräftefeld hatte sich gerade lange genug gehoben, dass ich seine Stimme hören konnte.
    Danach fuhr ich jedes Jahr mit meiner Familie nach Calvary – einmal kam Nana Smiths Schwester mit, einmal war mein Neffe dabei und half mir, gelbe Tulpen zu pflanzen. Ich wollte die fröhlichsten Blumen auswählen, die glücklichsten. Das letzte Mal, als Nana Smith dabei war, hatte sie Alzheimer. Sie hatte sich um Tommy gekümmert, wenn meine Tante und mein Onkel bei der Arbeit waren. Ich hatte sie fragen wollen, ob sie mir von ihm erzählen könnte, aber ich brachte es nicht fertig. Und jetzt vergaß sie immer mehr. Damals, bei der Rückfahrt, auf dem Rücksitz des Autos neben Nana Smith, war das einzige Mal, dass ich vor meinen Angehörigen weinte. Außer an dem Tag, als mein Vater mir erzählte, dass Tommy gestorben war – aber das war ein unkontrollierbarer Ausbruch von Trauer. Diesmal war meine Trauer unmäßig. Es war schrecklich. Ich fühlte mich so ungeschützt. Meine Mutter auf dem Beifahrersitz drehte den Kopf ein wenig. Links herum. Angespannt. Auf dem Vordersitz herrschte große Anspannung. In gewisser Weise sind sie wie Kinder, denen ich etwas vorzumachen versuche. Ich will ihnen vormachen, dass ich mich bestens im Griff habe. Nana Smith legt ihre Hand auf meine auf dem Plastikpolster. Es ist Sommer, meine Hand ist schwitzig, das Plastik ist klebrig, gerillt. Es fühlt sich an, als hätte sie ein Dutzend Ringe an den Fingern, die sich in meine Hand drücken, fest. Aber sie trägt so gut wie keinen Schmuck, ihre Haut ist kühl, ihr Griff wird fester, als wäre sie erleichtert, dass sie endlich erkennt, was ich brauche, und weiß, was sie tun kann. Sie tröstet mich.
    Im Sommer 2003 mietete ich ein Auto und besuchte Nana Smiths Halbschwester Anne. Nana Smith lebte inzwischen in einer betreuten Wohnanlage, nur kurze Zeit, bis sie weglief. Bis sie in ein Krankenhaus gesteckt wurde, wo sie die Nahrung verweigerte, wo sie starb. Ich hatte Anne angerufen und gefragt, ob ich Nana Smith besuchen könnte. Sie sagte: »Ja, ich helfe dir, zu deiner Großmutter zu kommen.« Aber als ich bei ihr war, sagte Nana: »Ich weiß nicht, was ich zu dir sagen soll, wenn deine Eltern nicht dabei sind.« Sie hatte Angst vor mir. Ich hatte mich verspätet, was sie verstörte. Weil sie sich Sorgen gemacht hatte, ging es ihr jetzt schlecht. Sie war nicht sie selbst. Anschließend fragte ich Anne, wie ich nach Calvary komme, und sie sagte: »Ich zeig es dir.« Ich fuhr mit meinem Mietwagen hinter ihrem Wagen her. An den Ampeln schrieb ich Straßennamen, Abbiegungen, alle Hinweise auf, die mir später helfen würden. Ich hatte ein kleines Heft, das ich auf dem Lenkrad balancierte.
    Jetzt ist 2006 . Ich habe einen Termin im Brockton Shoe Museum. Ich möchte mich umsehen. Aber vorher fahre ich mit meinen Eltern zum Grab meines Sohnes. Inzwischen leben sie die Hälfte des Jahres in Massachusetts. Ich bin zu Besuch. Meinem Vater macht es zu schaffen, dass er

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