Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)
Tür berühren, könnte aber die Tür nicht öffnen. Ich sage: »Mom ist hier.« Wäre ich allein, würde ich mich auf das Gras legen, über ihn. Ich würde ihm so nahe wie möglich sein, wäre so still wie möglich. Aber ich möchte nicht, dass jemand anders das sieht. Ich kann nur richtig aufmerksam sein, wenn ich unbeobachtet bin. So hebe ich mir das mit dem Hinlegen für später auf.
Das Schuhmuseum ist auf der anderen Straßenseite der Geschäftszeile, aber es ist ein gefährlicher, zickzackartiger Übergang, der meine Eltern verstört. Beim Überqueren der Straße sagt meine Mom immer wieder den Namen meines Vaters, in schriller werdendem Ton, ohne ihm jedoch irgendwelche Anweisungen zu geben. Ich hätte sie nicht überreden sollen herzukommen, aber jetzt sind wir da. Als der Direktor des Schuhmuseums uns begrüßt, wird mir klar, warum das Museum im Sommer für Besichtungen geschlossen ist. Es ist Juli, und drinnen kommt es einem vor, als wären es mindestens fünfzig Grad. Keine Klimaanlage. Keine geöffneten Fenster. Zwar habe ich noch ein paar Schlucke Wasser in einer Flasche in meiner Handtasche, aber ich fühle mich auf der Stelle klaustrophobisch. Es ist, als hätte jemand schon allen Sauerstoff aus der Luft gesogen. Es gibt keine Angestellten, nur den Direktor, der ehrenamtlich arbeitet und das Museum nur für mich geöffnet hat.
Der Direktor des Schuhmuseums war früher stellvertretender Verkaufsleiter bei Knapp Shoes und hat siebenundzwanzig Jahre in der Firma gearbeitet. Er ist sehr groß. Er zeigt mir die Leisten; jeder Schuh (und jede Größe) braucht eine eigene hölzerne Leiste, damit der Oberschuh und die Sohlen geformt werden können. Ich halte das rote Holz in der Hand. Es gibt Leisten für den Duke Bill Shoe ( 1875 ), den Up-Swing Needle Toe Shoe ( 1855 ), der einen großen Zeh wie eine Sichel hat, den Ralston Shoe ( 1910 ) mit sieben Perlmuttknöpfen, angeordnet in einem viktorianischen Bogen, den Needle Toe Shoe ( 1880 ) und viele andere mehr. Er zeigt mir die winzigen dekorativen Schuhe, die Porzellanschuhe, die Schuhe berühmter Personen. Er hält die Laufschuhe eines ehemaligen Präsidenten auf seiner Handfläche.
In dem oberen Stockwerk, wo er mir alte Bekleidung zeigt, die mich nicht interessiert, ist es noch heißer, das Dachgeschoss ist wie ein Backofen. Ich frage mich, wie er weitersprechen kann. Ich bin schweißdurchweicht. Ich habe die Wasserflasche geleert. Er zieht Schubladen mit losen Fotos auf, zeigt mir Kostüme auf Bügeln in einem Hinterzimmer. »Die Bedingungen der Aufbewahrung sind nicht gerade ideal«, sagt er, und ich beschließe wegzulaufen. Ich bin so ausgetrocknet, dass alles, was ich zu ihm sage, klingt wie durch Baumwolle gesprochen. Er geht hinter mir die Treppe hinunter. Als ich mich an der Tür verabschiede, habe ich die letzte Gelegenheit, ihn zu fragen, ob er etwas weiß. »Können Sie mir sagen, wie das mit dem Oberleder für die Schuhe war? Wo es gegerbt wurde?« Er, der stellvertretende Verkaufsleiter – weiß er, was ich damit sagen will? Er sagt, nur wenige Oberleder kamen aus Brockton, obwohl es da Fabriken für alle Zubehörteile gab, für die Leisten und so weiter. Er sagt, die meisten Oberleder kamen aus Wisconsin und aus Connecticut, glaube ich, aber nicht von hier. Das sagt er mit Entschiedenheit. Als wir uns die Hand geben und er zum ersten Mal lächelt, weiß ich nicht, was ich sagen soll. Er trägt auf beiden Seiten ein Hörgerät, und als auch ich zur Tür hinausgehe, sagt er: »Wo kommen Sie noch einmal her?«
Auf einer der Fahrten im Sommer, zurück vom Friedhof, hatte ich mich nach vorn gebeugt und wie ein Kind meinen Kopf zwischen die Sitze meiner Eltern gelegt und ihnen die Geschichte von den Kindern in Woburn erzählt, die Leukämie hatten. Ich erzählte ihnen von dem giftigen Stoff Trichlorethylen ( TCE ), den man im Wasser gefunden hatte. Mein Dad sagte: »Das ist ein Mittel, mit dem man Kopierer reinigt.« Das wusste er noch von der Navy. Er war der Lagerhalter gewesen. Ich sagte: » TCE wurde in Gerbereien verwendet. Der Anwalt hat gesagt, es wurde ins Abwasser geleitet und ist ins Grundwasser gelangt.« Mein Vater war still. Er sagte: »Die ganzen Schuhe.« Wir alle waren still. Ich hatte es vorher nicht zu Ende gedacht. In einer Gerberei wurde Leder behandelt, aus Leder wurden Schuhe gemacht. Brockton war die Stadt der Schuhe. Mehrere Hundert Jahre lang. Mehr sagte mein Dad nicht, nur noch: »Ein schrecklicher Gedanke, dass der
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