Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)
Strand gingen weg, die Flut stieg so weit, dass der Schwanz der Seelöwin nass wurde, und sie drehte sich im Wasser auf die Seite. Manchmal hob sie Kopf und Schwanz zu einer s-förmigen Yoga-Figur. Als das Wasser noch weiter gestiegen war, schwamm sie in dieser Haltung. Immer wieder sah ich ihre Nase an verschiedenen Stellen im Hafen aus dem Wasser auftauchen. Ihr schien das blaue Floß zu gefallen, das nahe der Küste vor Anker lag, als wäre das auch ein Geschöpf. Dann schwamm sie weiter hinaus. Ich war so froh, dass ich ihr in die Augen gesehen hatte, dass ich mit ihr gesprochen hatte. Ich bin überrascht, wenn ein Tier nicht antwortet, und es ist einfach von berückender Schönheit. Ein paarmal sah ich, als sie schwamm, die Falten ihres Fells unter den Wellen.
Am nächsten Tag nahm ich mir vor, zum Hafen zu gehen und nach der Seelöwin Ausschau zu halten. Aber wonach würde ich Ausschau halten? Wäre sie nicht fortgeschwommen, wenn alles in Ordnung war? Ich ging zur Bibliothek, und es war schon Spätnachmittag, fast Abend, als ich zum Strand kam. Ein weißer Lieferwagen auf dem Parkplatz beim Hafen: Marine Mammal Rescue – die Rettung von Meerestieren. Waren die Leute von der Audubon Society hier, um nach der Seelöwin zu sehen? War sie noch da? Ein Mann und eine Frau kamen vom Strand. Die Frau hatte einen Spaten mit einem leuchtend gelben Griff. Der Mann trug eine Plastiktüte mit etwas Dunklem drin. Ich sagte: »Sie sind nicht wegen des Seelöwen hier, oder?«
Die Frau sagte: »Doch. Er hat es nicht geschafft.« Wir sagen also »er« zu dem Seelöwen.
»Ist er tot?«
»Ja.« Sie benutzt den Ausdruck »verendet«. Sie ist noch jung. Der Mann will mir nicht in die Augen sehen – er trägt den Beutel, geht weiter, zu den Türen hinten an dem Lieferwagen.
»Aber gestern hat jemand gesagt, sie sei nicht krank.« Ich bin zu durcheinander, um zu wissen, welches das richtige Pronomen ist.
»Sie war sehr dünn, und sie hatte Verletzungen.« Ich erinnere mich an kleine Löcher, so groß wie Pennys, an ihrem Kopf. »Wir haben Proben entnommen, für eine genauere Untersuchung.« Sollte ein Rettungsteam nicht zu einer Rettung in der Lage sein? Einen Rettungsversuch machen? Warum hat man sie dünn und verletzt am Strand liegen gelassen? Sie hatte für mich ihr Maul aufgemacht, zu einem süßen Gähnen. Hätte man ihr nicht einfach einen Fisch ins Maul werfen können? Ihr helfen können? Es tut mir leid, dass ich sie allein gelassen habe. Später las ich, dass die Rettungsteams junge Seelöwen lieber im Wasser lassen, in der Hoffnung, dass die Mutter zurückkommt. Am nächsten Tag schwamm ich im Hafen, wo sie geschwommen war, bei denselben Felsen. Ihr Grab da draußen irgendwo.
Die andere Seelöwin, die im Wood’s Hole Aquarium, war gestrandet, sie war erst einen Monat alt, unfähig, sich zu ernähren, auch sie verwundet. Sie wurde hierhergebracht. Ich fotografiere sie beim Schwimmen. Mark und Julia und ich bilden eine kleine Gruppe, betrachten dieselben Schwimmflossen, Knochen. Seesterne, wie wir sie am nächsten Tag wiedersehen, als wir die Hunde am Plymouth Beach ausführen. Julia sagt: »Man sieht die heute nicht mehr.« Aber alle paar Schritte liegt wieder einer zwischen den Steinen auf dem Sand. Seesterne, wie ausgestreckte Hände. Ich mache ein Foto von Mark und Julia, wie sie mich im Regen ansehen.
In der Nische in der Pizza-Bar freut Julia sich darauf, nach Hause zu kommen und auf der großen Leinwand einen Film zu gucken – eine Komödie. Das klingt gut. Aber als wir im Zimmer sitzen, auf unseren Sesseln, schlägt sie einen Film vor über ein Kind, das von einer Frau, die nicht seine Mutter ist, aufgezogen wurde. Es ist keine Komödie, und voller Panik sage ich Nein. Mark geht die Liste der Filme durch, bereit, den mit uns zu sehen, den wir sehen wollen. Wir wollen alle etwas Lustiges, aber es gibt nur einen lustigen Film. Einen Jungenfilm, der eine Obszönität nach der anderen liefert. Auf der großen Leinwand noch lauter. Als würde man geprügelt. »Ist das okay?«, fragt Mark. Ich weiß, dass es ihnen peinlich ist, mir ist es auch peinlich. Wir stecken in diesem unbehaglichen Zimmer fest. Wir sehen dem Hauptdarsteller zu, einem berühmten Schauspieler, wie er erst mit einem Mädchen schläft, dann mit einem anderen. Irgendwann tritt James Taylor ins Bild und fragt den Komiker, ob er es jemals leid würde, über seinen Schwanz zu reden. Wenn wir nicht einmal einen guten Film auswählen können, wie
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