Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)
brennt zwischen zwei Wänden. »Ist zwischen dir und deinem Dad alles in Ordnung?«, fragt mich einer von ihnen. Ich hatte Angst gehabt, Mark und Julia anzurufen und mein Kommen anzukündigen. Aber zwei Wochen zuvor war ich bei meinen Eltern gewesen. Meine Mutter erwähnte, dass Julia eine Mail an meinen Dad geschickt hatte. Ich ging an seinen Computer und suchte ihre Adresse heraus. Nahm sie mit. Als ich Julia eine Mail schickte und sagte, ich sei über Thanksgiving in Boston und wolle sie besuchen, sagte ich auch, ich wolle meinen Eltern von dem Besuch nichts erzählen. Sagte, ich wolle sie nicht verletzen, weil ich die Feiertage nicht bei ihnen verbrachte.
Aber meine Tante und mein Onkel sind verwirrt. Ich verstehe, dass sie sich fragen, warum ich sie besuche und es vor meinen Eltern geheim halten möchte, warum ich sie bitte, es meinen Eltern gegenüber nicht zu erwähnen. Ihnen ist unbehaglich, unser Gespräch ist dreifach gespalten. Ihre Köpfe vorgelehnt und mir zugewandt, die Ellbogen auf der Granitfläche – so sind wir ein Tafelbild. Sie ist liliengleich. Seine Augen sind vergrößert, unter Wasser. Klar, ich bin falsch verbunden. Schon ein Gespräch mit der Kassiererin im Supermarkt strengt mich an, und jetzt bin ich hier, praktisch unangekündigt, sitze in einer Küche mit Menschen, die mich kaum kennen. Bleibe Tage und Tage. Alles fühlt sich verkehrt an. Ein Kind wäre hier willkommen, ein Kind würde hier hinpassen. Aber ich bin zu alt für dieses Haus; ich weiß, warum Menschen die endlose Zeit nach dem Tod wählen, die Stille, aber es ist immer schrecklich, wenn jemand aufhört zu singen. Zu dritt geben wir eine Art Summen von uns. Unsichtbare Bienen umkreisen uns, machen, dass sich die Härchen auf meinem Arm aufrichten. Ich hab’s mir anders überlegt. Ich möchte alles rückgängig machen, meine Reise, möchte wieder über die Brücke fahren, zurück in meine Wohnung mit dem Meer vor der Tür. Niemand stellt mir Fragen. Mark sagt: »Warum rufst du nicht deinen Dad an? Es ist doch Thanksgiving.«
Ich sage Nein, dann sage ich: »Okay«, und Mark wählt die Nummer auf seinem Mobiltelefon.
Er ist völlig überrascht – das sagt mein Dad zu Julia, als ich ihr das Telefon gebe. Er hat keine Ahnung, warum ich hier bin.
Es macht mich krank, ihm wehzutun. Ich muss ihn noch mal anrufen. Mark gibt mir sein Mobiltelefon, und ich nehme es, obwohl ich in meiner Handtasche mein eigenes habe. Ich stehe auf, gehe nach oben, den langen Flur entlang, an den vielen Schlafzimmern vorbei, zu dem pfirsichfarbenen Zimmer. Ich will auch meiner Mom nicht wehtun. Mein Dad sagt, er weiß jetzt, warum ich da bin, er glaubt, ich will einen Mann von einer Internet-Datingbörse treffen, der in dieser Stadt wohnt. Davon hatte ich im Sommer gesprochen, etwas Leichtes – eine lustige Geschichte –, sich einen Partner im Internet zu suchen. Aber mit ihren Sorgen hatten sie die Leichtigkeit zerstört – wie konnte ich mich mit jemandem treffen, der so weit weg wohnte? Damals hatte ich ihn noch nicht einmal gesehen; er war zu beschäftigt, hatte er gesagt.
Nachdem ich mit meinen Eltern gesprochen hatte, kann ich nicht schlafen, aus lauter Angst, dass ich sie verletzt habe. Dann schlafe ich doch ein, aber vorher rast mein Herz wie während des Fluges, wie im Bus. Ich bedauere zutiefst, dass ich gekommen bin. Ich habe vergessen, warum ich gekommen bin, was unsere Verbindung ist.
Doch dann wird es hell. Julia sagt mir in der Küche Guten Morgen und küsst mich auf die Wange. Kurz darauf denke ich: »Sie erinnert sich.« Hier sind keine Vögel auf den Bäumen – ein Blatt, das im Wind schwingt, ich hielt es für einen Vogel, eine ähnliche Bewegung in den Bäumen. Es ist kalt hier, aber draußen blüht etwas blau.
Ein Vogel fliegt am Fenster vorbei und in die Höhe, höher beim Näherkommen. Die Deckfedern graublau, die darunter weiß, den Kopf in die Höhe gestreckt. Draußen ist eine Steinmauer – aus Bruchsteinen, und dahinter aufgeschichtet braunrote Blätter. So eine Mauer baut man, um das zu bewahren, was man behalten möchte.
Erzähl mir, woran du dich erinnerst, von dem Moment an, als ihr in der Garage in Orlando ins Auto gestiegen und weggefahren seid. Er hat geweint, das war das Letzte, was ich gehört habe, als ihr in die Garage gegangen oder ins Auto gestiegen seid. Erzähl mir alles, an das du dich von dem Moment an erinnerst. Wie war der Flug? War es schwierig für ihn? Hat er geschlafen?
Ich übe die
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