Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)
neben meiner Tante und meinem Onkel zu stehen ist so, als würde ich durch schweren Stoff atmen. Meine Augen könnten Schmucksteine sein, Bergkristall. 1969 war ich bei ihrer Hochzeit, sieben oder acht Jahre alt – Söckchen, Knöpfchen, Spitze, Ballerinaschühchen und ihre Schönheit über mir. Die Hochzeit war ein Königreich – hier leben der König und die Königin –, wie ich meinem ein Jahr jüngeren Bruder erklärte. Ich zeigte ihm die Farben, die Türme. Das war damals, als ich ihm sagen konnte, er solle seine Sachen in eine Papiertüte packen, sie unter dem Bett verstecken, bis zum Morgen, wenn er sein Superman-Kostüm anziehen, die Tüte nehmen und mir, mit Strandsachen und Sandalen bekleidet, zur Tür hinaus folgen solle und dann neben mir gehen, während hinter uns die Sachen aus der Tüte auf den Weg fielen. Damals vertraute er darauf, dass ich den Weg wusste.
Endlich bekommen wir einen Platz, und meine Tante und mein Onkel sitzen mir gegenüber in der Nische. Ein bisschen fühlt es sich an wie ein Vorstellungsgespräch. Ich könnte aus Filz sein, ausgeschnitten in der Form einer Frau – ich ordne meine Gesichtszüge immer wieder so, dass sie das Gegenteil von Weinen sind. Das Gegenteil von etwas, das in mich schneidet. Am Tage waren wir nach Wood’s Hole gefahren, ich hatte im Regen gestanden und Fotos vom Wasser gemacht. Julia hatte gesagt: »Wir könnten ins Aquarium gehen.« Riesige Wasserbecken, ein blauer Hummer. Zwei Hafenseelöwen, die regelmäßige Kreise drehten und sich aus dem Wasser erhoben wie Meerjungfrauen. Mark hatte gesagt: »Sieh dir seine Augen an.« Einer der Seelöwen hatte dunkle Augen, aber die des anderen waren fast farblos, von dem Blaugrau des Seelöwenkörpers, von Wasser. Er ist von einem Hai angegriffen worden und dabei erblindet – entweder wurden die Augen durchstochen, oder es war das Trauma, man weiß es nicht. Er wurde am Strand gefunden. Mark sieht, was ich nicht sehe – die Blindheit, die Wasserbecken mit Fischen, die zwischen Wänden wohnen wie in seinem Haus das offene Feuer. Er hatte nicht dort hinfahren wollen. »Da kann man nicht parken«, hatte er gesagt. Dann hatte er doch einen Platz gefunden.
Ich hatte schon einmal einen Hafenseelöwen gesehen, in Wellfleet vor ein paar Jahren, nach einem Essen im Haus meiner Eltern. Es war bewölkt, Mayo Beach war fast menschenleer. Auf einem Strandstück zwischen den Felsen, über eine weitere Felsenreihe hinweg, waren vier Menschen: Ein Mann fuhr mit einem Segelboot raus, um es zu ankern, eine Frau stand am Wasser, und ein anderer Mann war weiter unten am Strand bei den Felsen, in den Händen hatte er ein Streichnetz, und ein kleiner Junge spielte in seiner Nähe im flachen Wasser. Es war ganz still, aber die Flut hatte noch nicht ihren höchsten Punkt erreicht, und ich war froh, Platz zum Gehen zu haben. In dem stillen grauen Himmel und Wasser ging ich auf ein Geschöpf zu. Im ersten Moment wusste ich nicht, was ich da sah. Einen jungen Seelöwen mit Augen wie dunkle Teiche, Wimpern wie ein Kätzchen, auch einem Schnurrbart wie ein Kätzchen. Oder wie ein Baby, denn als ich mit ihm oder ihr sprach, gähnte das Baby. Die Füße mit den Schwimmhäuten waren zum Wasser hin zusammengelegt. Die kleinen Hände mit Schwimmhäuten lagen an den Seiten wie ein gefalteter Brief. Der Seelöwe sandte keinen Hilferuf, aber ich wusste nicht, was ich tun sollte. Sie – ich sagte einfach sie – war ganz aus dem Wasser raus, und ich dachte, ich müsste sie hochnehmen und zum Hafenbecken tragen. Es ist dann so, als würde ich einen Fisch anfassen, dachte ich, aber anders – die Haut wie ein Taucheranzug. Ich überlegte, ob eine Seelöwin zahnt, wie ein Kind, wie sie Fisch verzehrt – ob sie beißen würde.
Ich winkte dem Mann auf dem Boot zu. Keine Reaktion. Ich wandte mich winkend der Frau zu, aber die sprang gerade ins Wasser. Ich wollte das Seelöwenbaby nicht einfach liegen lassen und ging deshalb schnell zu dem Mann, der weiter weg war, der mit dem Streichnetz und dem Jungen. »Die Seelöwin hat hier vor zweieinhalb Stunden ein Sonnenbad genommen. Jemand hat bei der National Audubon Society angerufen. Die haben gesagt, sie sei nicht verletzt, es sei natürlich. Halten Sie einfach dreißig Meter Abstand.« Der Mann mit dem Netz sagte: »Deswegen ist da ein Schild.« Aber da war kein Schild. Ich schätzte dreißig Meter ab und setzte mich auf die Felsen, sodass ich das Seelöwenbaby sehen konnte. Die anderen Leute am
Weitere Kostenlose Bücher