Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)
fühlt sich an, als würde ich Gestalt annehmen, wie eine Zeitreisende. Und meine Atome würden sich zusammenfügen.
Bis zu diesem Tag waren die einzigen Bilder, die ich von meinem Sohn gesehen habe, die von seiner Geburt, in seinen ersten Tagen, und die kurz vor seinem Tod. Dazwischen kaum etwas. Aber in diesen Umschlägen finde ich ihn. Da ist er, glücklicher, glücklicher kleiner Junge, und lächelt mich an. Mark am Strand, er hält Tommy vor seiner Brust, der Kofferraum des Autos hinter ihnen steht offen. In der Sonne lehnt sich mein Sohn an die Brust meines Onkels. Mark hat langes Haar, er ist schlank, gebräunt; Tommy ist ein pummeliges Baby, und sie lehnen sich aneinander, zufrieden, gelöst, Vater und Sohn. Nichts Schlimmes hat sie bisher berührt, kein Anzeichen von einem Schaden. Es ist ein einziges Glück. Jetzt steht mein Onkel neben mir, die Farbe ist aus seinem Haar gewichen, Falten verlaufen wie Rillen quer über seine Wangen.
Ich hatte gedacht, dass mein Sohn in ihrer Vergangenheit lebte, dass sie jetzt das Hundehotel haben, das neue Haus, ihre Freunde, mit denen sie nach Irland fahren, Golf spielen, ihre Gärten bestellen und in diesem Jahrhundert leben. Ich dachte, ich sei mit alldem allein, das Foto meines Sohnes schliefe mit mir in dem Haus. Julia kommt nach oben, in das Zimmer, wo ich bin. Sie gibt mir ein goldenes Medaillon mit Tommys Foto. Ich fühle mich weit entfernt. Ihre Augen sind weit offen. Es ist ihr Medaillon – noch verstehe ich das nicht. Es ist ein Schmuckstück, es ist ein winziges Foto von Tommy, das sie mir und meinen Eltern zu Weihnachten geschickt hatten. Er sitzt in einer Schaukel und trägt einen Pullover, in dem er ganz kräftig aussieht, wie ein Footballspieler.
»Was ist mit der Truhe?«, fragt Mark. »Wo Tommys Sachen drin sind?« Die ist in Mansfield. »Das ist nur eine Dreiviertelstunde, ich fahre.« Und weg ist er.
4 .
Es ist 1981 , kurz vor Weihnachten. Mein Sohn, der Sohn meiner Tante und meines Onkels, steht vor Mark; Mark hält einen Strumpf, der beinahe so groß wie Tommy ist. Am oberen Rand sieht man Teile von einem O und einem M. Weiter unten ist ein lachender Schneemann. Tommy lächelt, eine Hand in Hüfthöhe, die andere erhoben, der Arm angewinkelt. Ich kann seine Finger zählen. Er trägt eine grüne Cordlatzhose, ein langärmeliges weißes Hemd mit Rot und Grün, weiße Babyschuhe. Ich muss lächeln, wenn ich ihn ansehe – er ist so glücklich. Strahlende Augen.
Tommy sitzt auf einem Pferd und hält die Holzgriffe am Kopf des Pferdes umfasst. Er trägt eine dunkle Jacke über roten Hosen, die wie ein Schlafanzug sind, mit einem Schmetterling am Knie, grüne Socken. Jemand hält ihn im Gleichgewicht. Kinder spielen auf der Tapete hinter ihm. Sein Gesicht ist ernst, er sieht den Fotografen an. Es ist auch mein Gesicht. Ich gucke in meine Augen, seine Augen. Wenn es Weihnachten ist, dann ist er da schon krank.
Noch ein lächelndes Foto – die warme rote Hose, weiße Socken, die Füße seitlich gedreht, ein weißes Hemd mit roten Streifen, das über und über mit dem Wort COWBOY bedruckt ist. Ein riesiger Spielhund, dreimal so groß wie Tommy, sitzt unmittelbar hinter ihm. Tommy sieht mit leuchtenden Augen nach oben und lächelt.
Er sitzt im Laufstall und hat vier Finger in seinen lächelnden Mund gesteckt, die andere Hand bewegt sich, als wollte er winken. Seine Finger lang wie meine. Erdbeerblondes Haar, das sich wellt. Rotes Hemd, blau. Ein Hase liegt daneben. Ein Finger ausgestreckt. Tommy sieht aus, als freute er sich. Er lacht.
Tommy auf dem Rücken eines riesigen lebendigen Hundes, beide auf einem Sofa. Tommy hat eine Hand ausgestreckt, um den Hals des Hundes zu berühren, ein Bein über dem still sitzenden Hund. In seinem Cowboyhemd und der grünen Latzhose.
Einige Zeit davor, Oktober 1981 . Er ist sieben Monate alt. Er sitzt bei meinem Onkel auf dem Schoß. Mark hat den Arm um Tommy gelegt. Tommys eines Bein ist auf Marks Oberschenkel ausgestreckt, das andere hängt zwischen Marks Beinen. Mein Onkel hält einen kleinen Kürbis in der Hand, in den ein Lächeln geschnitzt ist. Tommy hat die Hand oben auf dem Kürbis, eine Hand ist nahe dem ausgestochenen Auge, wie zum Streicheln. Er hat einen hellblauen Schlafanzug mit Füßen an. So schön. Julia hat mir von einem Medium erzählt, dem sie zuhört, dessen Schriften sie liest. Und ich hatte immer gedacht, sie arbeitet im Garten. Jetzt weiß ich, was sie macht, sie sucht nach einer
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