Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)
Tante, der nächste Schritt in der Behandlung meines Sohnes wäre eine Knochenmarktransplantation gewesen. Er hätte vorher nur ein bisschen zu Kräften kommen müssen. Sie sagt: »Dann hätten sie dich angerufen. Du wärst sein Spender gewesen.« Da weine ich. Ich hatte, was er brauchte. Ich hätte es ihm geben können, hätte ihm helfen können, mein Körper hätte ihn retten können. Aber er hat nicht genügend Kraft gewonnen, um die Transplantation zu überstehen.
Jemand ist nebenan – Mark. Er hat die andere Treppe genommen, war dicht neben uns, unbemerkt. »Bist du gerade runtergekommen?«, fragt meine Tante.
»Ich bin schon die ganze Zeit hier«, sagt er. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
»Ich gehe besser mal nach oben«, sage ich zu ihnen.
Ich sitze an dem runden Tisch und gucke einfach aus dem Fenster. Dann kommt jemand ins Zimmer gerannt, zu der Tür herein, die ich nicht sehen kann. Es ist Mark – ich weiß, dass er nicht lacht, aber was tut er? Sein Körper scheint aus den Fugen geraten zu sein, er bebt. Er krampft wie jemand, der einen Schlag in die Brust bekommen hat, den Oberkörper nach vorn gebeugt. Ich versuche, unter den Zuckungen sein Gesicht zu sehen, aber er bewegt sich schnell auf mich zu. Jetzt sehe ich, dass er weint, zittert. In seinen Händen hält er Umschläge, ein Riesenfoto, Kassetten.
Seine Stimme ist so laut, als würden seine Wörter übereinander ertönen – dieselben Wörter, ein ums andere Mal. Mark schlägt die Arme um mich, bevor ich verstehe, was er sagt. Niemand hat mich jemals so fest gehalten. Es ist ein Schock, dass ich so wichtig bin. Es ist nicht wie Arme um mich, es ist vielmehr wie ein Haus, als würde er ein Haus um mich bauen. Wie er eins um Tommy gebaut hat. Wie ich es in Florida gemacht habe, als Tommy krank war und ich nicht zu ihm konnte, als er im Sterben lag, als er starb – ich habe meine Arme zu einer Wiege gemacht. Wenn ich mich abends ins Bett legte, habe ich mit meinen Armen und Händen ein Bett für ihn gemacht.
Mark sagt: »Ich habe ihn so sehr geliebt.« Er braucht lange, um das zu sagen. Ich könnte es irgendwo eingravieren, könnte es in die Luft meißeln. Die Sachen in seinen Händen hat er auf den Tisch fallen gelassen. Seine Arme sind immer noch so fest, dass es sich anfühlt, als würden sie ewig so bleiben, und auch als er mich loslässt, spüre ich sie. Ich verstehe, dass er mich hält und Tommy. Ich habe Angst vor so viel Traurigkeit. Sie ist nicht an einem Ort in seinem Körper, sein ganzer Körper ist in Trauer. Vielleicht wusste er, was er tat, als er alles unter Verschluss hielt – wer bin ich, dass ich ihn bitten kann zu erzählen? Ich hatte bisher nicht verstanden, wie es für Mark gewesen ist, für Julia, meinen Sohn zu halten, ihren Sohn, Tag für Tag, ihn zu berühren, ihn zu hören, ihn, den Menschen, zu lieben. Und dann zu sehen, wie er dünn wurde, krank, den verlorenen Ausdruck in seinen Augen zu sehen. Es muss schwer für sie gewesen sein, mir gegenüberzutreten. Wie ist es, wenn man jemanden verliert, und er sieht einen aus dem Gesicht eines anderen an?
Meine eigene Trauer geht tief in das Schuldgefühl hinein, weil ich Mark Schmerz zugefügt habe. Julia sagt mir später, dass Mark das tun konnte, weil er mich liebt. Sie wusste nichts von der Schublade mit den Fotos von Tommy. Sie fragte sich, ob Mark die Schublade aufzog, wenn sie selbst bei der Arbeit war. Ob er sich die Fotos ansah, allein. Ich weiß nicht, wer ich bin, dass ich so geliebt werden kann.
Aber auch eine seltsame Macht ist spürbar – ich habe das Gefühl, Mark und Julia manipuliert zu haben. Einen Moment lang ist es wie bei einem verrückten Wissenschaftler, der alle im Bann hat. Aber eigentlich bin ich betäubt. Warum ist es ein solcher Schock, geliebt zu werden? Warum kann ich es nur einen Augenblick lang zulassen – eine Wärme in meiner Brust – und ziehe mich dann zurück?
Julia sagte, als Mark uns in der Küche entdeckte, habe er zu ihr gesagt: »Das war aber ein langes Gespräch.«
Und Julia habe gesagt: »Kelle will mehr über Tommy wissen.« Sie sagte, darauf sei er an die Schublade gegangen. Habe alles herausgenommen und es ihr gegeben, eins nach dem anderen. »Gib Kelle die hier.« Dann habe er gesagt: »Nein, ich mache das selbst.« Und so war er nach oben gerannt. Alles hatte er drinnen behalten, so viele Jahre. Und jetzt spricht er über Tommy, weil ich ihn gebeten habe, weil er mich liebt. Ich bin immer noch betäubt, aber es
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