Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Titel: Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelle Groom
Vom Netzwerk:
können wir dann jemals über meinen Sohn sprechen? Irgendwann geht Julia raus. Und kurz darauf gehe ich auch raus.
     
    3 .
     
    Am Morgen, als ich nach unten komme, schlagen die sechs Hunde an, als wäre ich ein Eindringling. Bin ich ja auch. Meine Tante und mein Onkel stehen früh auf, ich bin spät dran. Aber sie warten mit dem Frühstück auf mich, an der Insel in der Mitte der Küche, die Hunde schlafen wieder ein, jeder in seinem Korb unter dem großen Fenster. Zwei Hunde schlafen nebeneinander wie Zwillinge. Ich trinke meinen Kaffee langsam, und Mark geht nach oben in sein Büro. Julia sitzt auf einem Stuhl neben mir. Ich frage sie schnell, ich habe es geübt: »Kann ich mit dir über Tommy sprechen?« Ich weiß, dass sie alle Wörter kennt, die ich gesagt habe, dass sie mich gehört hat, aber es entsteht ein weißer Raum. Sie sagt, sie erinnere sich an das letzte Mal, als ich nach ihm gefragt habe, vor zwei Jahren, als ich über ihn sprechen wollte. »Deshalb bin ich gekommen«, sage ich.
    Einer der Hunde, eine Hündin, ist siebzehn Jahre alt, blind und taub, mit langhaarigem Fell – ihre Welt dunkel, dem Ende zugehend. Wenn sie sich in der Ecke der Küche den Kopf stößt, dreht Julia sie in eine andere Richtung um. Ein großer Hund stupst mich so lange an, bis ich ihn streichle.
    Julia und ich sprechen am Spülbecken. »Ich weiß nicht, wie du das geschafft hast«, sagt sie und meint, dass ich ihn ihr gegeben habe. »Ich war darauf eingestellt«, sagt sie. Sie hatte geglaubt, ich würde es mir anders überlegen. Julia sagt, sie sei zu mir ins Krankenhaus gekommen, habe neben meinem Bett gestanden und gesagt: »Er wird immer wissen, wer seine leibliche Mutter ist.« Sie sagt, ich hätte darauf gesagt: »Erst wenn er achtzehn ist.« Und sie war überrascht. Ich bin auch überrascht. Warum habe ich das gesagt? Es klingt, als würde ich etwas nachplappern. Wie die Geschichte von meinem Dad, der erst mit achtzehn erfuhr, dass sein Vater nicht sein leiblicher Vater war. Sie sagt, es sei nie ein Geheimnis gewesen, wo Tommy herkam, wer seine Mutter war, nicht in ihrer Familie. Vielleicht in Marks – sie wirkt unsicher. Würde sie das nicht wissen? Ich vermute, das heißt, Marks Familie wusste es nicht – es war ein Geheimnis. Warum? Und warum ändert sich der Ausdruck in ihrem Gesicht immer wieder, als fiele ihr etwas ein und sie wüsste nicht recht, wie sie es sagen soll? Tommy ist mit Marks Familie blutsverwandt. Warum würden sie das nicht wissen wollen? Ich versuche mich im Krankenhausbett zu sehen, Julia neben mir, aber es ist wie ein Film, ein Bild, das ich nur einmal gesehen habe, beim Zappen.
    »Wir wussten nicht, wer Tommys Vater war, nichts über deine Situation«, sagt Julia. Ich erzähle, dass ich verlobt war, bevor ich schwanger wurde, dann aber aufhörte, verliebt zu sein. Dass mein Verlobter sagte, als ich die Verlobung lösen wollte: »Du strengst dich nicht genug an.« Ich erzähle ihr nicht, dass mein Exverlobter mich zu einer Abtreibung überreden wollte, als ich ihm sagte, ich sei schwanger, und dass ich das zurückgewiesen habe. Ich erzähle ihr, dass die Familie meines Exverlobten das Baby adoptieren wollte, dass seine Mutter mich anrief und fragte: »Wann kriegen wir denn unseren Sonnenschein?« Ich erzähle ihr nicht, dass er mich verfolgte, bei der Arbeit, am College, dass er mir zum Auto nachging. Aber als ich ihr erzähle, ich hätte ihm irgendwann gesagt, das Baby sei gar nicht von ihm, lächelt meine Tante wie eine Mutter. Sie lächelt mit Bewunderung und überraschtem Stolz. »Ich wäre auch vor Gericht gegangen«, sage ich zu ihr. »Ich wusste nichts über DNA .« Meine Tante sagt: »Damals gab es den Test eigentlich noch nicht.«
    Julia sagt, Tommy habe vor Weihnachten Ohrenschmerzen bekommen – ab dem 9 . oder 19 . Dezember. Damals fing es an. Die Ärzte glaubten, es sei ein Virus. Aber Weihnachten ging es ihm schlecht, und Silvester wussten sie, dass es Leukämie war. Sie sagte, im Keller hätten sie einen schönen Weihnachtsbaum, aber Mark würde ihn auch heute noch nicht aufstellen, weil Tommy um Weihnachten herum krank geworden ist. Sie sagt, Mark wolle immer noch nicht über Tommy reden. Mein Sohn ist in ihrem Leben so anwesend wie in meinem. Die Trauer war für niemanden schnell vorbei. Sie hat uns verändert, so wie der Krebs die DNA meines Sohnes verändert hat.
    Während wir sprechen, habe ich immer noch das Gefühl, mein Gesicht ist eine Maske. Aber dann sagt meine

Weitere Kostenlose Bücher