Ich uebe das Sterben
Harald hat beruflich beim Biathlon in Ruhpolding zu tun, und ich begleite ihn mit den beiden Hunden. Wir haben eine kleine Ferienwohnung gemietet, außerhalb des Ortes und direkt an einem kleinen See gelegen.
Während dieser Zeit spüre ich eine zunehmende Distanz zwischen Harald und mir. Ich kann sie nicht wirklich greifen, aber sie ist da. Zum ersten Mal bereue ich, dass ich mich auf die Fernbeziehung eingelassen habe. Ein Unbehagen breitet sich in mir aus, und ich habe Angst, Harald zu verlieren. Da kommt Angst zu Angst, denn die Angst vor dem Klinkaufenthalt sitzt auch tief in mir drin. Ich bin überfordert – und das mit den einfachsten Dingen, mit meinem Leben an sich.
Zurück in Göppingen habe ich wieder so viel zu tun mit meinem Job und den Hunden, dass die Angst sich nur in meine Träume schleicht. Schlaflose Nächte machen mich reizbar, und wenn ich mit Harald telefoniere oder ihn am Wochenende sehe, bin ich voller Misstrauen. Ich fühle mich klein, krank, gefangen in mir selbst und reagiere oft völlig überzogen. Da ist Streit vorprogrammiert.
Für unsere Beziehung wird diese Zeit zur Zerreißprobe. Und bald habe ich den schlimmen Verdacht, dass es eine andere Frau in Haralds Leben gibt. Ich spüre, wie Harald sich von mir entfernt. Schleichend und lautlos. Wir sprechen wenig miteinander und geraten oft wegen Nichtigkeiten aneinander.
Im Gegensatz dazu zwitschert er geradezu übertrieben fröhlich bei Telefonaten mit wem auch immer in sein Handy. Außerdem kommt es immer öfter vor, dass ich ihn während der Woche abends nicht erreichen kann oder er am Wochenende nicht zu mir kommen möchte. Zum ersten Mal im Leben bin ich eifersüchtig.
Ich setze große Hoffnung in eine Reise, die Harald und ich mit seiner Mama unternehmen. Ende Mai fahren wir nach Grömitz an der Ostsee.
Noch bevor wir die Ostsee erreichen, gibt Ted in der Nacht ein Lebenszeichen von sich und zeigt mir, dass er geladen ist. Harald nimmt mich weder in den Arm, noch hat er ein liebes Wort für mich übrig. So sitze ich einsam in der dunklen Nacht und hoffe, dass ich irgendwann schlafen kann. Im Morgengrauen bin ich so unterkühlt und müde, dass ich neben Harald auf die Matratze sinke und wegdöse.
Der Norden empfängt uns freundlich. Strahlender Sonnenschein, blühende Rapsfelder, leere Strände und ein tolles Ferienhaus. In dieser Urlaubswoche versuche ich mich als Schauspielerin: Haralds Mama gegenüber gebe ich mich lustig, freundlich und unternehmungslustig und bin auch stets bemüht, zwanglos mit Harald umzugehen. Innerlich jedoch bin ich kurz davor, komplett durchzudrehen. Nachts schleiche ich mich immer weg von Harald, ins Etagenbett, weil ich seine Kälte nicht ertragen kann und jedes Gespräch mit ihm ins Nichts führt.
Am vorletzten Tag der Reise passiert es dann doch: Nervlich am Ende, raste ich komplett aus. Durch eine SMS auf Haralds Handy hat sich mein Verdacht bestätigt, dass er zu einer Laufkollegin mehr Kontakt hat, als er zugibt. Stundenlang renne ich wie eine Verrückte am Strand auf und ab und versuche, mich abzureagieren.
Als ich in das Ferienhaus zurückkehre, bin ich total beherrscht. Ich will mir keine Blöße mehr geben, will nicht klein und schwach erscheinen. Denn so, denke ich, verliere ich ihn endgültig – und das ist eigentlich das Letzte, was ich will.
Als ich wieder zuhause in Göppingen bin, verdränge ich meine Befürchtungen wegen Harald und sammle stattdessen meine Kraft, um die Angst vor dem Aggregatstausch zu überwinden.
Eine meiner Strategien ist, dem neuen Metallfreund schon vorab einen Namen zu geben. Es soll wieder ein Männername mit drei Buchstaben sein. Die Kinder meiner Kollegin bringen mich auf eine Idee: Bob wie Bob der Baumeister. Denn der sagt immer: »Jau, wir schaffen das!« Das passt prima zu dem lebensrettenden Gerät – und zu der ungewissen Lebenslage, in der ich mich gerade befinde.
Bei einer Reise zu den Deutschen Meisterschaften im Vierundzwanzig-Stunden-Lauf in Scharnebeck, zu denen ich Harald begleite, schöpfe ich Hoffnung für unsere Beziehung. Harald ist gut gelaunt, und wir verbringen schöne Tage miteinander. Als wir nach Hause fahren, scheint alles wieder gut zu sein.
Aber dieses Gefühl hält leider nicht lange an. Wenige Tage später habe ich Geburtstag, den ich mit Harald und ein paar Freunden feiern möchte. Doch Harald kommt Stunden später als geplant und nimmt mich bei seinem Eintreffen nur kurz in den Arm, um mir zu gratulieren. Kein Kuss,
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