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Ich uebe das Sterben

Titel: Ich uebe das Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gritt Liebing
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landen.
    Zudem ist Kirstin einer der ganz wenigen Menschen, die keine Berührungsängste mit den Themen Tod, Sterben und Krankheit haben. Auch das tut mir gut, denn ich kann mich ganz normal mit ihr über meine Probleme, Sorgen und Nöte unterhalten. Abseits des Tierheimalltags finden wir immer wieder Zeit, miteinander auf einer Wiese zu sitzen, den Hunden beim ausgelassenen Spiel zuzusehen und über das Leben zu sinnieren.
    Es tut gut, etwas Neues zu lernen und es dann auch gleich in die Tat umzusetzen. Die Arbeit ist wie eine kleine Oase –
trotz des ganzen Elends und Leids, das ich sehe – und ein Lichtblick an meinem Horizont. Ich erlebe viele Momente, in denen ich den Tod im Nacken nicht spüre, und das ist schön. Es ist eine sinnvolle, gute Arbeit, die mir ein kleines Stückchen Selbstwertgefühl zurückgibt. Wertlos fühle ich mich oft genug, wenn ich so viel Strom von Bob abbekomme, dass ich quasi bewegungsunfähig bin. Im Tierheim aber kann ich einfach nur ich selbst sein und werde nicht als Sozialschmarotzerin, deren Leben am seidenen Faden hängt, abgestempelt. Es ist nicht wichtig, ob ich viel oder wenig Geld habe, welche Kleider ich trage oder ob ich krank bin. Berührungsängste mit Lebewesen, die krank oder anders sind, die scheinbar nicht dazugehören, sind dort einfach fehl am Platze. Ich bin eine Frau, die ihre Hilfe zur Verfügung stellt.
    Merlin und Basti fühlen sich im Tierheim recht wohl, finden neue Hundefreunde und toben auf der großen Spielwiese. Das beruhigt mich, und ich kann, wenn es wieder einmal sein muss, in die Klinik gehen, ohne mir Sorgen zu machen, weil ich weiß, dass die Vierbeiner gut untergebracht sind und Harald sich nicht neben seiner Arbeit auch noch ausgiebig um die Hunde kümmern muss.
    Leider lernt Merlin auch, über hohe Zäune zu klettern. Bei einem seiner »Ausflüge« landet er bei einer läufigen Hündin, und diese wird trächtig.
    Etwa zwei Monate später erblicken sechs süße Hundekinder das Licht der Welt. Es sind zwei Hündinnen und vier Rüden. Ich bin fasziniert und verbringe viel Zeit bei der Hundemama und ihren Welpen. Es fühlt sich ein bisschen an, als sei ich Oma geworden. Ich möchte gerne einen der Kleinen behalten. Harald brauche ich glücklicherweise nicht lange zu überreden. Wir behalten den Schwächsten und Buntesten, der einen großen weißen Fleck im Nacken hat: Pickwick.
    Als Pickwick zu uns kommt, bin ich gerade mal wieder überfordert, denn Bob nimmt keine Rücksicht auf Veränderungen in meinem Leben.
    Durch meine Hunde habe ich jedoch eine Aufgabe, einen Grund, noch mehr auf der Flucht zu sein vor dem Sterben. Wenn etwas passiert, das mich zu Boden zieht, lässt mich der Gedanke an die drei immer wieder aufstehen und weitergehen.
    Doch unser kleines Familienidyll bekommt schon im November 2004 Risse. Das Leben nimmt wieder einmal einen anderen Kurs, als ich geplant habe. Merlin entwickelt sich zum Beißer.
    Ich gehe mit Basti, Merlin und Pickwick die Treppe in unserem Mehrfamilienhaus hinunter, um mit ihnen eine Runde an der frischen Luft zu drehen. Ein Nachbar kommt um die Ecke – ein großer, unfreundlicher Mann, der stark nach Alkohol riecht. Ohne dass ich Zeit gehabt hätte zu reagieren, reißt Merlin sich los, springt an dem Mann hoch und beißt ihn in die Brust. Der Pullover ist zerfetzt. Hund und Mann sind kaum zu bändigen. Ich rase mit den Hunden die Treppe wieder hoch, zurück in die Wohnung. Dort setze ich mich in einer Art Schockstarre auf den Boden und schaue in Merlins tiefblaue und völlig leere Augen, während Pickwick neben mir auf den Teppich pinkelt.
    Das Erlebnis hinterlässt Spuren. Ich bin mir sicher, dass mit Merlin irgendetwas nicht stimmt. Er beißt nicht aus übertriebenem Schutzinstinkt – und schon gar nicht grundlos. Eine Odyssee beginnt. Mit im Boot ist Christian, der Tierarzt vom Tierheim. Christian spricht nicht viel, aber was er sagt, macht Sinn. Und er hat einen Draht zu seinen Patienten – vor allem zu Merlin, der geradezu zu ihm aufblickt.
    Während Merlin von Tierklinik zu Tierklinik reist, schockt Bob munter weiter. Meine Kräfte schwinden, und ich kann überhaupt nicht mehr schlafen.
    Und damit nicht genug: Wieder mal steht ein Umzug an. Harald und ich ziehen in eine größere Wohnung im nur wenige Kilometer entfernten Griesheim. Das Haus, in dem sich unsere neue Wohnung befindet, steht nahe den Feldern und ist damit optimal für die Hunde. Allerdings sind Umzüge auch mit viel Arbeit verbunden.

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