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Ich uebe das Sterben

Titel: Ich uebe das Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gritt Liebing
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Wir wollen noch vor dem Weihnachtsfest im neuen Zuhause sein.
    Und wir schaffen es tatsächlich: Eine Woche vor Weihnachten sitzen wir im neuen Heim. Auch wenn Harald und ich total platt von dem ganzen Stress sind, sind wir glücklich.
    Bob erledigt derweil eifrig seine Arbeit. Er geht mir total auf und an die Nerven. Ich möchte Ruhe finden, will Kraft haben für mein Leben, will zurück an meinen Arbeitsplatz, will Energie für die Hunde haben und will endlich wieder laufen. Doch die Energie, die Bob abgibt, lässt mich leer zurück. Es ist, als ob er mit jedem Stromstoß Kraft aus mir raussaugt.
    Merlin macht mir weiterhin Sorgen. Er ist zeitweise völlig abwesend und scheint nicht mehr der Hund zu sein, der er vor ein paar Monaten noch war. Seine Sensibilität meiner Krankheit gegenüber bleibt jedoch erhalten.
    Kurz bevor Bob aktiv wird, bellt Merlin. Anfangs denke ich, es ist Zufall, aber irgendwann ist es nicht mehr zu leugnen: Er hat in dieser Sache den siebten Sinn.
    Merlin und ich haben eine ganz besondere Verbindung, die sich nicht in Worte fassen lässt. Umso schlimmer ist es, dass ich sehe, wie er sich immer mehr in sich zurückzieht und den Spaß am Leben zu verlieren scheint. Selbst Fraukes Hundetraining scheint ihm nicht zu helfen. Im Gegenteil: Eines Tages beobachte ich, dass er seinen Kopf wie in Trance immer wieder vor die Wand schlägt. Es ist ein furchtbarer Anblick, der mir kalte Schauer über den Rücken jagt.
    Meine Kräfte lassen immer mehr nach. Ich will weg, weg von allem. Also schnüre ich die Laufschuhe und beginne wieder mit dem Training. Langsam und nur kleine Einheiten, aber ich laufe. Ich habe das Gefühl, mit jedem Schritt ein Stück Ballast loszuwerden. Langsam kehrt wieder etwas Energie zurück.
    Diese Energie nutze ich und fahre mit Harald nach Bad Lippspringe. Dort findet – ausgerechnet an meinem vierzigsten Geburtstag – ein Vierundzwanzig-Stunden-Lauf statt. »Run for Help«. Laufend Gutes tun. Für jeden gelaufenen Kilometer werden zwanzig Cent für kranke Kinder gespendet. Das ist wirklich ein guter Grund zum Sporteln.
    Der Lauf startet um dreizehn Uhr auf einem nur 620 Meter langen Rundkurs. Ich bewege mich vierundzwanzig Stunden im Kreis. Harald dagegen nimmt sich eine sechsstündige Auszeit, denn er will am darauffolgenden Wochenende bei den Deutschen Meisterschaften im Vierundzwanzig-Stunden-Lauf in Reichenbach an den Start gehen. Für ihn ist der heutige Wettkampf lediglich ein Aufwärmen.
    Wir haben unglaublich viel Glück mit dem Wetter, und auch die Stimmung ist bestens. Tagsüber drehen Schulklassen und sogar ganze Kindergartengruppen mitsamt ihren Erzieherinnen ihre Runden für den guten Zweck. Nachts bin ich streckenweise sehr einsam unterwegs, aber die Strecke ist mit endlos vielen Teelichtern illuminiert. Ich tauche ein in die kleinen Flammen, in die Dunkelheit und in eine Nacht, die keinen Platz für Probleme lässt.
    Nach 104 Kilometern bin ich vierundzwanzig Stunden später im Ziel. Hand in Hand mit Harald.
    Obwohl mein Geburtstag ja nun schon vorbei ist, fahren Harald und ich in ein schönes Hotel und feiern noch ein wenig mit Sekt, Kuchen, Geschenken und guter Laune.
    Als wir wieder zu Hause sind, bin ich voller Tatendrang. Ich bin in jeder Hinsicht optimistisch.
    Doch schon bald wartet der nächste Schlag auf mich: Merlin hat wieder einmal gebissen. Diesmal eine Praktikantin des Tierheims – und zwar so schlimm, dass sie im Krankenhaus genäht werden muss.
    In dem Moment weiß ich, dass Merlin den Kampf verlieren wird. Den Kampf, den ich nur zu gut kenne: gegen den Mann in Schwarz, den Tod.
    Ich versuche alles, um meinen Hund zu retten. Ich rede und rede und rede: mit Frauke und Kirstin, mit Harald und Christian, dem Tierarzt. Ich lasse Merlin wieder und wieder untersuchen, seine Blutwerte überprüfen, sein Gehirn röntgen, gebe ihm Medikamente. Doch nichts von alledem hilft oder gibt einen Hinweis darauf, was mit Merlin los sein könnte.
    Letztlich läuft alles auf eine Frage hinaus: Muss Merlin gehen oder nicht? Eine aus ethischen Gründen nicht leicht zu beantwortende Frage. Aber ich persönlich wünsche mir ja auch einen schnellen Tod, ohne lange Qual. Merlin soll diese Möglichkeit auch haben. Doch ich kann noch nicht loslassen. Mein Hirn arbeitet rund um die Uhr auf Hochtouren, meine Seele blutet. Es ist meine subjektive Empfindung, dass der Hund leidet, aber ist es wirklich so? Ich denke darüber nach, wie es wohl den Menschen um mich herum

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