Ich uebe das Sterben
schön, an einem toll gedeckten Tisch vor einem liebevoll geschmückten Weihnachtsbaum zu sitzen und das Flackern der Kerzen zu beobachten. Auch wenn die Wunde schmerzt und ich kaum etwas essen kann, weil mein Magen immer noch rebelliert, ist es doch ein schönes Weihnachtsfest. Ich lebe, und ich bin mit Harald zusammen.
Dem neuen Jahr fiebere ich ganz besonders entgegen, denn ich bin froh, wenn das Jahr 2003 vorbei ist. Es war das bisher schlechteste Jahr meines Lebens, und ich würde es liebend gerne komplett aus meinen Erinnerungen streichen. Aber diese Möglichkeit habe ich leider nicht.
Kerckhoff-Klinik – das zweite Zuhause
W enn das Jahr 2004 unter einem Motto steht, dann ist es das Folgende: Kerckhoff-Klinik. Es gibt keinen Monat, in dem ich nicht dort bin.
Im Januar ziehe ich aus meiner Wohnung in Göppingen aus und bei Harald und den beiden Hunden in eine kleine Wohnung in Darmstadt ein. Das hat vor allem gesundheitliche Gründe: Ich bin weder in der Lage, an meinen Arbeitsplatz zurückzukehren, noch, die Hunde alleine zu versorgen. Ich fühle mich furchtbar ausgegrenzt, so ohne geregelten Tagesablauf. An Sport ist gar nicht erst zu denken. Überhaupt ist an nichts zu denken, was mich an ein ganz normales Leben erinnert.
Bob gibt keine Ruhe. Er arbeitet – präzise und zuverlässig und lebensrettend.
In der Kerckhoff-Klinik gehöre ich zwischenzeitlich zum Inventar. Dort fühle ich mich wohl und gut aufgehoben. In der Klinik ist es nicht wichtig, dass mein Antrag auf Frührente läuft und dass ich einen Behindertenausweis in der Tasche habe. Ich bin einfach nur Mensch. Manchmal schwach und klein, von der Angst vor dem Sensenmann geschüttelt, von Existenzängsten zermürbt. Manchmal stark und groß – und froh, dass Bob als Wunderwaffe gegen den Tod so gute Arbeit leistet und ich immer wieder aufs Neue dem Leben begegnen kann.
Die Ärzte der Klinik haben immer neue Ideen und testen viele Medikamente, um mir zu helfen, Strom zu sparen. Die Medikamente können allerdings viele Nebenwirkungen hervorrufen. Aber ich bin bereit, alles zu versuchen und gemeinsam mit den Ärzten nach einem Mittel zu suchen, das meine gesundheitliche Situation verbessert. Mein Leidensdruck ist enorm groß. Ich will zurück in mein normales Leben. Ich will nicht weiter abstürzen.
Unsere Testreihe an Medikamenten bleibt jedoch erfolglos. Das Herz findet weiterhin keinen Rhythmus, der mein Leben verbessert.
Dennoch verliere ich nie komplett den Mut und die Hoffnung – und schon gar nicht den Humor.
So kann ich doch sehr darüber schmunzeln, als eines der Medikamente mir nachts tanzende Schlümpfe mit roten Mützen auf meine Bettdecke zaubert. Ich weiß, dass sie nicht real sind, und trotzdem kann ich so oft blinzeln, wie ich will: Die hüpfenden Blaugesichter bleiben da. Zumindest für ein paar Minuten.
Damit ist der Gipfel des Eisbergs an Nebenwirkungen erreicht, und die Ärzte und ich gönnen uns eine Pause.
Ich verlasse die Klinik. In meinem Gepäck befinden sich keine Medikamente und auch kein einziger Schlumpf.
Neue Pfade
D a ich fast mehr Zeit in der Klinik als zu Hause verbringe, kommen Basti und Merlin viel zu kurz. Ich bin verzweifelt, denn ich will die Hunde auf keinen Fall abgeben.
Die Lösung des Problems sind Frauke, die Hundetrainerin, und Kirstin, die Tierheimleiterin.
Frauke ist eine angenehme Person mit einem sehr trockenen Humor. Von ihrer ruhigen Art kann ich als Hektikerin nur profitieren. Sie tut mir gut.
Ich genieße die Hundetrainerstunden, genau wie Merlin. Er bekommt von Frauke eine Beschäftigungstherapie in Form von Futter- und Fährtensuche verordnet. Damit ist sein Kopf ausgelastet, und die Tapeten bleiben zukünftig, wo sie sind. Basti ist von dem ganzen Training jedoch wenig begeistert, denn er ist und bleibt ein Sturkopf.
Wenn ich in der Klinik bin, finden meine beiden Hunde bei Kirstin im Tierheim übergangsweise ein Zuhause. Im Gegenzug mache ich mich dort ein wenig nützlich, da an allen Ecken und Enden helfende Hände fehlen. So helfe ich bei der Aktualisierung der Homepage, beim Saubermachen der Hunde- und Katzenzimmer und Kleintiergehege, und manchmal sitze ich einfach nur irgendwo und streichle ein verwirrtes, ängstliches Tier.
Kirstin ist ein chaotischer Wirbelwind mit tollen Ideen und einem unglaublichen Gespür für Hunde. Es macht Spaß, mit ihr zu arbeiten, und ich lerne viel über Hunde, Katzen, Kleintiere, Esel und alle möglichen Findelkinder, die im Tierheim
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