Ich uebe das Sterben
sitze ich nun und fühle mich mal wieder ausgegrenzt und einsam. Einsam wie ein Stein, wie meine Freundin Kirstin immer sagt.
Obwohl ich so viel Hilfe bekommen habe, bleibt die Hand des Sensenmanns nur auf meiner Schulter spürbar. Dieses Gefühl kann ich nicht erklären, und am besten behalte ich es auch für mich, denn der Tod macht allen Menschen Angst. Und Angst verbreiten will ich nicht.
Keine Stunde später bin ich auch schon wieder voll dabei und mache mich auf den Weg ins ungefähr neun Kilometer entfernte Ziel. Zu Fuß, allein, auf der Straße in brütender Hitze. Ich will mir diesen Tag auf keinen Fall vermiesen lassen, will eine von vielen sein, will einfach nur genießen. Denn den Ironman auf Hawaii mitzuerleben wird für mich sehr wahrscheinlich ein einmaliges Erlebnis sein. Auch wenn ich nur eine Zuschauerin bin, bedeutet es mir sehr viel, dort zu sein.
Die Stimmung im Ziel ist gigantisch, und ich erkenne die Gesichter vieler Menschen, die ich in den letzten Wochen betreut habe.
Den Zwischenfall mit Bob habe ich zu diesem Zeitpunkt schon weit von mir geschoben.
Als schließlich der letzte Athlet das Ziel erreicht hat und die Lichter dort erlöschen, bin ich beeindruckt vom Spektakel des Ironman Hawaii.
Am Sonntagabend bin ich bei der traditionellen Party im Lulu’s. Da feiern alle Triathleten und deren Freunde. Die Bar ist brechend voll, und die Drinks sind teuer und lecker. Die Stimmung ist einfach nur genial.
Nachdem ich die Party verlassen habe, sitze ich in dieser Nacht noch lange alleine im Mondschein auf einem großen Stein am Meer. Ich lasse meine Gedanken schweifen, und ich bin glücklich – besonders, weil Bob gestern mal wieder so gute Arbeit geleistet hat.
Am folgenden Tag gibt es im Büro viel Arbeit, doch abends werden wir dafür belohnt. Die gesamte Reisegruppe mitsamt Betreuern geht zum Captain Beans’ Cruise. Das ist eine kleine Kreuzfahrt zum Sonnenuntergang mit kitschiger Hulashow, tropischen Drinks und leckerem Essen. Es ist wunderschön.
Gemäß dem Motto »Das Beste zum Schluss« habe ich mir für den Tag vor meiner Abreise etwas ganz Besonderes vorgenommen: Gemeinsam mit drei Athleten aus der Reisegruppe habe ich ein Allradfahrzeug gemietet, und wir machen uns am frühen Nachmittag auf den Weg zum Mauna Kea, dem sogenannten Schlafenden Vulkan.
Dieser Berg ist faszinierend, denn er ragt rund 4200 Meter in die Luft. Wir sind gut ausgestattet mit warmer Kleidung und festen Schuhen, denn dort oben sind die Temperaturen um den Gefrierpunkt, und man muss auch mit Schnee rechnen. Daher auch der Name, denn Mauna Kea heißt übersetzt »Weißer Berg«.
Zunächst halten wir am Visitor Center auf ungefähr 3000 Höhenmetern an. Das ist empfehlenswert, denn dort kann ich meinem Körper die Möglichkeit geben, sich ein wenig auf den Höhenunterschied einzustellen. Eigentlich wird Menschen mit Herz-Kreislauf-Problemen dringend von einem Besuch des Mauna Kea abgeraten. Aber ich will mich nicht angesprochen fühlen. Außerdem habe ich ja Bob im Gepäck, und der arbeitet, wie ich weiß, auch auf Hawaii sehr zuverlässig.
Im Visitor Center habe ich keinerlei Beschwerden wie Schwindel oder Kopfschmerzen, und zum Glück geht es meinen Begleitern auch blendend. Nach vierzig Minuten fahren wir weiter, denn wir wollen den Sonnenuntergang über den Wolken nicht verpassen.
Die Kulisse auf dem Gipfel ist atemberaubend – und für mich auch Atem raubend. Ich kann kaum stehen, mir ist schwindelig, und mein Herz tanzt Tango. Doch ich will keinesfalls im Auto bleiben. Mit blauen Lippen und aschfahlem Gesicht quäle ich mich über einen kleinen Pfad zu einem Denkmal. Dort bitten wir ein paar andere Touristen, ein Gruppenfoto von uns zu machen. Ich lasse auch noch eins von mir allein machen. Es gehört zu den Fotos, auf denen ich am glücklichsten aussehe.
Wir sind alle gebannt vom Sonnenuntergang, einem unbeschreiblichen Ereignis von beinah unfassbarer Schönheit. Keiner von uns redet auch nur ein Wort.
Wir müssen uns auf den Rückweg machen, denn mit Einbruch der Dunkelheit wird der Berggipfel für Besucher gesperrt.
Als wir wieder das Visitor Center erreichen, halten wir an, steigen aus dem Auto und sind ein weiteres Mal sprachlos: Die Sterne sind zum Greifen nah, und es sind so viele, dass der ganze Himmel glitzert. Gigantische Sternschnuppen kreuzen das Firmament, und es ist wieder so unglaublich schön, dass ich denke, es wäre in Ordnung, genau in diesem Moment zu sterben. Dennoch bin
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