Ich und Earl und das sterbende Mädchen: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
Während die Mädchen den Karton artig in Glitter tauchten und sich über Elfen oder die Freuden der Hausarbeit oder was weiß ich unterhielten, saßen Earl und ich am anderen Ende des Tisches, wo er mir die komplette Handlung von GoldenEye erzählte, dreimal. Ziemlich schnell war abgemacht, dass ich nach der Schule mit zu ihm nach Hause gehen würde. Ein günstiges Schicksal wollte es, dass mich Dad an dem Tag von der Schule abholte. Er fand nichts dabei, sein Kind nach Homewood losziehen zu lassen – in Begleitung eines anderen Kindes, das er noch nie zuvor gesehen hatte, und dessen zwei wilden Brüdern, von denen der eine wiederholt schwor, jeden anderen Menschen totzuschießen.
Earl hatte zumindest in einem Punkt gelogen: Die Brüder ließen Earl nicht mit dem N64 spielen, wann er wollte. Als wir im Haus der Jacksons ankamen, verkündete Devin (der älteste), er müsse erst noch eine Mission beenden, bevor wir mitmachen könnten.
Also setzten wir uns im Schein des Bildschirms auf den Fußboden, und es war das Wunderbarste, was ich je erlebt hatte. Wir befanden uns in der Gegenwart eines Meisters. Hingerissen vor Glück schauten wir zu, wie Devin seinen Panzer durch die Straßen von St. Petersburg lenkte und alles umnietete, was ihm in die Quere kam. Wir beklagten uns nicht, als Devin sagte, er müsse noch eine zweite Mission spielen. Wir verharrten in ehrfürchtigem Staunen, als er durch ein Schlachtschiff schlich und dabei auf hinterhältige Weise Dutzende Menschen ermordete.
»Jetzt ihr alle gegen mich«, sagte Devin und schaltete um auf Multiplayer. Ich griff mir einen Controller. Es waren mehr Schalter und Knöpfe daran, als ich mit allen Fingern erreichen konnte, darum probierte ich, einen Fuß mit einzubeziehen. Das klappte nicht besonders gut. Earl versuchte mir zu erklären, wie er funktionierte, gab aber bald auf. Wie sich herausstellte, war auch er kein großer Experte. Zwanzig Minuten lang irrten wir auf einer verschneiten sibirischen Raketenbasis herum, schleuderten wahllos Granaten in den Wald, liefen hilflos gegen Mauern, weil wir nicht wussten, wie man sich umdrehte, und wurden von Devin abgeschlachtet, der dafür jedes Mal eine neue und aufregende Waffe wählte: das Sturmgewehr, die Schrotflinte, die Laserpistole. Derrick, der andere Bruder, ignorierte Earl und mich komplett und zog es vor, allein gegen den Meister zu kämpfen. Es war ein aussichtsloses Unterfangen. Unter unablässigen, gnadenlosen Schmähungen färbte Devin die Tundra rot mit unserem Blut.
»Ihr nervt, Versager«, sagte Devin schließlich. »Und jetzt verpisst euch.«
Eine Freundschaft war geboren. Earl war definitiv der Anführer und ich sein Sidekick. Selbst wenn wir keine Videospiele spielten, ordnete ich mich ihm unter, weil er sich in weltlichen Dingen so viel besser auskannte als ich. Zum Beispiel wusste er, wo bei ihnen in der Küche der Alkohol stand. Ich befürchtete schon, wir würden davon probieren müssen, aber das war zum Glück nicht vorgesehen. »Von Alkohol krieg ich saumäßige Kopfschmerzen«, erklärte er mir irgendwann.
Zum damaligen Zeitpunkt ging es im Jackson-Haushalt ein bisschen geordneter zu. Earls Stiefvater wohnte noch dort, seine Halbbrüder waren im Krabbelalter, und seine Mutter hatte ihr Exil im zweiten Stock noch nicht bezogen. So konnte ich den Verfall von Earls Haus hautnah miterleben. Es ist eigentlich nicht die Geschichte, die ich hier erzählen will, darum spare ich mir die Details, aber im Prinzip war es so, dass Earls Stiefvater auszog und dann im Gefängnis landete, Earls Mom eine Reihe von Männerfreundschaften hatte und mit dem Trinken begann, und um die Zeit herum, als die jüngsten Halbbrüder in die Vorschule kamen, sie schon mehr oder weniger aufgegeben hatte, sich um irgendwas zu kümmern, und damit anfing, sich rund um die Uhr in Chatrooms aufzuhalten. Ich habe viel davon mitbekommen, während es passierte, war aber erst im Nachhinein in der Lage, mir einen Reim darauf zu machen. Und selbst heute habe ich nur eine vage Ahnung. Es fiel mir ziemlich schwer zu verstehen, was dort ablief.Wie dem auch sei: Während über die Jahre die Dinge weiter den Bach runtergingen, verbrachten wir immer weniger Zeit bei Earl und begannen schließlich bei mir rumzuhängen. Nur wussten wir nicht, was wir in meinem Haus anstellen sollten. Wir versuchten es mit Brettspielen, was ätzend war. Wir kramten irgendwo ein paar G.I. Joe-Figuren heraus, aber das war im Vergleich zu den Videospielen
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