Ich und Earl und das sterbende Mädchen: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
Hauptdarsteller Klaus Kinski im richtigen Leben genauso verrückt war wie als Aguirre. Er hat sogar auf einen der Mitarbeiter am Set geschossen – weil er ihm zu laut war und Kinski sich nicht konzentrieren konnte. Also schoss er seinem Kollegen vom Filmteam mit einer Pistole in die Hand . Wenn das immer noch nicht ausreicht, dass ihr dieses Buch fallen lasst und sofort losgeht, um euch den Film anzusehen, kann ich euch auch nicht helfen. Vielleicht seid ihr ja diejenigen mit dem Gehirnpilz.
Natürlich mussten wir ihn uns gleich noch mal anschauen. Dad hatte keine Lust auf eine weitere Runde, aber uns gefiel er beim zweiten Mal sogar noch besser. Wir machten die deutschen Stimmen nach, vor allem die von Kinski, der sprach, als würde er gerade gewürgt. Wir machten Kinskis Gang nach, dieses betrunkene Torkeln. Wir lagen stundenlang im Haus herum und stellten uns tot, bis Gretchen einen von uns fand, einen Mini-Nervenzusammenbruch erlebte und unkontrolliert zu heulen anfing.
Mit einem Wort: Für uns war das der beste Film aller Zeiten. Und am Wochenende darauf luden wir ein paar Klassenkameraden zu einer Vorführung ein.
Sie fanden ihn furchtbar.
Wir schafften gerade mal die ersten zwanzig Minuten. Sie beschwerten sich, dass er zu langsam sei. Sie konnten die Untertitel nicht lesen, und wir waren noch nicht geübt genug, um sie ihnen vorlesen zu können. Pizarros Rede am Anfang, sagten sie, daure ewig und sei langweilig. Auch die Handlung fanden sie blöd: Aguirre und alle anderen suchten eine Stadt, von der gleich am Anfang gesagt wird, dass sie nicht existiert . Sie begriffen nicht, dass es genau darum ging . Sie kapierten nicht, dass der Hammer gerade diese wahnwitzige Sinnlosigkeit war. Stattdessen sagten sie ständig, wie schwul der Film sei.
Es war eine Katastrophe, aber auch hilfreich. Denn so wurde uns vor Augen geführt, was wir im Prinzip längst wussten: Wir waren anders als die anderen Kids. Wir hatten andere Interessen, andere Werte. Man kann es schwer erklären. Im Grunde hatten auch Earl und ich nicht viel gemeinsam, aber wir waren die einzigen Zehnjährigen in Pittsburgh, die Aguirre, der Zorn Gottes mochten, und das war schon mal was. Es war sogar eine ganze Menge.
»Die jungen Nihilisten«, nannte uns Dad.
»Was sind Nihilisten?«
»Nihilisten glauben, dass nichts einen Sinn hat. Sie glauben an nichts.«
»Genau«, sagte Earl. »Ich bin Nihilist.«
»Ich auch«, sagte ich.
»Braver Junge«, sagte Dad und grinste. Dann hörte er auf zu grinsen und meinte: »Sag’s nicht deiner Mom.«
Und das ist ein Teil der Hintergrundgeschichte von mir und Earl. Er wird später wahrscheinlich noch von Bedeutung sein, obwohl, wer weiß das schon genau. Ich fasse es nicht, dass ihr immer noch dabei seid, das hier zu lesen. Am besten, ihr haut euch gleich mal selber ein paar rein, nur um die unsäglich bescheuerte Erfahrung, die dieses Buch darstellt, vollkommen zu machen.
Zwölftes Kapitel – Der Video-Idiot
Wenn ich eins über die Menschen gelernt habe, dann, dass sie einen am ehesten mögen, wenn man die Klappe hält und sie das Reden übernehmen lässt. Jeder spricht gern über sich. Nicht nur die Kids, die ein schönes Leben haben. Nehmen wir zum Beispiel Jared »Crackhead« Krakievich, einen der dürrsten und unbeliebtesten Schüler an der Benson. Soweit ich weiß, hat Jared nie Crack geraucht, aber er lässt beim Laufen die Arme so komisch hinter dem Rest seines Körpers her baumeln wie ein Huhn, sein Mund steht immer mindestens zu drei Vierteln offen, und in seiner Zahnspange haben sich meistens irgendwelche Essensreste verfangen. Er riecht nach Gewürzgurken, und seine Eltern sind Yinzer. Alles in allem könnte man meinen, dass er keine Lust hat, über sein Leben zu sprechen, aber das war ein Irrtum, wie ich neulich im Bus feststellen konnte. Zum Beispiel erfuhr ich, dass sein Hund spürt, wenn der Quarterback Ben Roethlisberger drauf und dran ist, gefeuert zu werden, und dass er (Jared, nicht der Hund und auch nicht Ben Roethlisberger) gerne Gitarre lernen würde.
Falls ihr nicht aus Pittsburgh seid, sollte ich wahrscheinlich erklären, dass »Yinzer« Leute mit einem starken Pittsburgher Dialekt sind. Außerdem laufen sie zu allen Zeiten im Outfit der Pittsburgh Steelers herum – auch am Arbeitsplatz und bei Hochzeiten.
Im Prinzip will ich damit nicht sagen, dass man Leuten zuhört, um irgendetwas Interessantes zu erfahren. Man tut es, um nett zu sein und damit sie einen mögen, weil eben
Weitere Kostenlose Bücher