Ich und Earl und das sterbende Mädchen: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
alle Lehrer in beängstigendem Tempo von der Sache erfuhren, und die erzählten es ihren Schülern; außerdem wurde das Ganze ungefähr eine Woche lang in den Morgenansagen verkündet.
Also, ja. Möglicherweise war es der Todesstoß für meine Unsichtbarkeit, die ich während der ganzen Zeit an der Highschool kultiviert hatte und die mir peu à peu abhanden gekommen war, seit ich mich mit Rachel angefreundet hatte. Früher war ich der ganz normale Greg Gaines gewesen. Dann wurde ich Greg Gaines, Rachels Kumpel und mutmaßlicher Freund.
Das war schon schlimm genug. Aber jetzt war ich auch noch Greg Gaines, Filmemacher. Greg Gaines, der Typ mit der Kamera, der damit den Leuten folgt. Greg Gaines, der euch vielleicht gerade in diesem Moment ohne euer Wissen und Einverständnis filmt.
Ganz große Scheiße.
Zweites Problem: Das Material war nicht so dolle. Vor allem die Lehrer redeten viel zu lange. Keiner von ihnen sagte etwas, das man hätte kürzen können. Viele fingen an, von Tragödien zu reden, die sich in ihrem Leben ereignet hatten, was abgesehen davon, dass wir das nicht verwenden konnten, die Atmosphäre im Raum ziemlich unbehaglich machte, sobald wir mit der Aufnahme fertig waren.
Was die Schüler betrifft, so gaben 92 Prozent eine beliebige Kombination von Folgendem von sich:
»Gute Besserung!«
»Eigentlich kenn ich dich nicht besonders gut.«
»Ich weiß, wir haben nicht besonders oft miteinander rumgehangen.«
»Du bist zwar in meiner Klasse, aber wir haben nie richtig miteinander geredet.«
»Ich weiß im Grunde überhaupt nichts über dich.«
»Aber ich weiß, dass du die innere Kraft hast, diese Krankheit zu überwinden.«
»Du hast ein wunderschönes Lächeln.«
»Du hast ein wunderschönes Lachen.«
»Du hast wahnsinnig schöne Augen.«
»Ich finde deine Haare wunderschön.«
»Ich weiß, dass du jüdisch bist, aber ich möchte jetzt trotzdem etwas aus der Bibel zitieren.«
Und die anderen 8 Prozent versuchten witzig oder originell zu sein, was noch schlimmer war.
»Ich habe in der achten Stunde ein Lied geschrieben, das ich dir vorsingen möchte. Sind wir so weit? Soll ich es jetzt einfach singen? Rachel, du hast Leukämie/ Ist kein Grund zur Hysterie/Kletterst du auch hoch die Wände/dein Leben geht nicht gleich zu Ende!!!«
»Heute dachte ich, selbst wenn du wirklich stirbst, dann ist das ja nur auf dieser willkürlichen menschlichen Skala, auf der ein Leben uns kurz oder lang oder was auch immer erscheint, und aus der Perspektive der Ewigkeit ist das menschliche Leben verschwindend klein, also eigentlich ist es dasselbe, ob du 17 oder 94 oder sogar 20000 Jahre alt wirst, was natürlich unmöglich ist, und andererseits, aus der Perspektive eines Nanomoments, was die kleinste messbare Zeiteinheit ist, ist die menschliche Lebensspanne fast unendlich, selbst wenn man als, na ja, Kleinkind stirbt. Darum ist es so oder so egal, wie lange man lebt. Ich weiß jetzt nicht, ob dir das weiterhilft, aber es ist was, worüber du nachdenken kannst.«
»Greg ist eine Schwuchtel. Ich schätze mal, wenn er in dich verknallt ist, ist er wahrscheinlich bisexuell oder so. Ich hoffe, es geht dir besser.«
Drittes Problem: Madison hatte schon Genesungskarten für Rachel gemacht. Also war das, was wir taten, erstens nicht gerade neu. Wir machten nichts anderes als Genesungskarten im Videoformat.
Und zweitens – wir brauchten etwas länger, bis wir das merkten – war nichts spezifisch Gaines/Jackson-haftes an unserem Werd-wieder-gesund-Video. Es war etwas, das jeder konnte. War es demnach eine besonders tolle Geste? War es nicht.
Wir drehten seit sieben Jahren Filme. Wir mussten etwas Besseres zustandebringen.
Dreißigstes Kapitel – Rachel - der Film: die Ken-Burns-Version
Ken Burns hat eine Menge Dokumentarfilme über bestimmte Themen gedreht, über den Amerikanischen Bürgerkrieg zum Beispiel. Er war beim Amerikanischen Bürgerkrieg nicht dabei, so wie wir bei Rachels Leben überwiegend auch nicht dabei waren. Ich meine, waren wir zwar, aber wir hatten nicht drauf geachtet. Das klingt grauenhaft, aber ihr wisst, was ich meine. Oder vielleicht ist es wirklich einfach nur grauenhaft. Keine Ahnung.
Passt auf: Wir haben Rachel nun mal nicht ihr ganzes Leben lang mit der Kamera verfolgt, um uns Material für eine mögliche Doku zu besorgen. Das könnt ihr mir echt nicht vorwerfen.
Jedenfalls, der Ken-Burns-Stil beinhaltet, einen Haufen Fotos und altes Filmmaterial zu zeigen, das andere Leute aufgenommen
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