Ich vergebe dir - Bucciarelli, E: Ich vergebe dir - Io ti perdono
selbst beschäftigt. Seit Monaten schon machen wir nichts mehr gemeinsam. Ich meine, wir unternehmen nichts mehr, gehen nicht mehr aus. Aber du weißt ja, in welchem Zustand ich bin. Und aus deiner Angst vor dem Alleinsein lässt du solche Typen überhaupt erst in dein Leben hinein.«
»Hab etwas Geduld mit mir«, erwiderte Maria Dolores. Ihr lag der idiotische Satz auf der Zunge, den man Eltern für gewöhnlich als Trost mit auf den Weg gab: Sie muss sich erst mal austoben, das gibt sich schon wieder. Partys, Ausgehen, Verabredungen, endlose Gespräche – doch sie wusste, dass es nie mehr so sein würde.
Maria Dolores verabschiedete sich und legte den Hörer auf. Einen Moment zufrieden, sich den langen und leeren Stunden des Wartens hingeben zu können.
73
Er war versetzt worden wegen des Verdachts auf Missbrauch an einem minderjährigen, geistig zurückgebliebenen Jungen. Eine Anschuldigung ohne Beweise, allein aufgrund von Gerüchten. Für eine Anschuldigung reichte schon wenig. Und es war nicht einfach zwischen den beiden Fronten eine neutrale Haltung zu bewahren: der einen, die darüber redete, und der anderen, die es nicht konnte, weil das Verständnis und der Wille fehlten.
Don Paolo hatte seine Versetzung, die Schande und die Last der Beschuldigungen akzeptiert. Er war nicht verzweifelt angesichts der hohen Berge, die seinen Blick wie eine Gefängnismauer einengten. Gewohnt an die Weite des Meeres, musste er nun seinen Horizont beschneiden. Die Augen nach oben, zum Himmel richten. Er hatte seinen Schmerz beiseitegeschoben und sein heiliges Amt wieder aufgenommen. Tagein, tagaus.
Auch die Carabinieri von Aosta waren diesem Puzzleteil der Wahrheit mittlerweile auf die Spur gekommen, und in den Schlagzeilen sprach man von ihm bereits als einem Monster: »Priester erhängt sich aus Schmach über das Böse in ihm selbst.« Und wahllos folgten Stellungnahmen anderer Priester. Auf dem Gewissen hatte er etwa zehn Kinder, die, wenn auch keine körperlichen, so doch psychische Schäden davontrugen, sowie die Mutter, die an Herzversagen gestorben war und damit eine Welle an besorgten Patienten zur Untersuchung in die Notfallaufnahme getrieben hatte. Eine Kontrolle kann nie schaden. Ich mache derzeit viel durch. Ich möchte nur sichergehen, dass mit meinem Herzen alles in Ordnung ist. Die Kunde der Patientin mit Tako-tsubo-Syndrom hatte sich unter den Kardiologen wie ein Lauffeuer herumgesprochen und fand schon bald weitere Anhänger.
Maria Dolores indes befand sich auf einem Streifzug durch den Kastanienwald von Challand. An ihrer Seite ihr Kollege Funi. »Das nächste Mal ziehen Sie sich besser feste Schuhe an, der Wald ist in dieser Jahreszeit recht feucht.«
Funi nickte und ließ seinen Blick umherschweifen. »Diese Gegend ist wirklich wunderschön«, kommentierte er.
»Ja, wunderschön und wenig überlaufen. Wir kommen jetzt gleich zu den Wasserfällen. Es gibt dort riesige Brombeersträucher, die im September mit Beeren dicht behangen sind … Als Kind kam ich oft hierher, um sie zu pflücken. Damals war man noch sicher hier«, fügte sie dann hinzu.
»Was genau suchen wir eigentlich?«, fragte Funi.
»Keine Ahnung.« Dann dachte sie nach. »Ein Versteck vielleicht? Eine Stelle, die niemandem bisher aufgefallen ist. Vielleicht eine Höhle oder etwas Ähnliches. Ich weiß es wirklich nicht.«
Schritt für Schritt gingen sie weiter. Das römische Aquädukt tauchte nun in Sichtweite auf und mit ihm ein Mann, der in einer Gumpe, einem winzigen klaren See, angelte. Er war jung, trug eine Tarnweste und eine militärgrüne Jacke, dazu Gummistiefel, die ihm bis über die Knie reichten. Als er sie erblickte, nickte er ihnen stumm zu, in der Hoffnung, sie würden sich ruhig verhalten. Einige Meter weiter entfernt saß eine Frau auf einem ausgebreiteten Tuch und strickte. Es waren die letzten milden Herbsttage.
Sie ließen die beiden hinter sich. Um sie herum nichts als das Knacken von Ästen, das Geräusch ihrer Schritte, fallende Blätter und der Wind. Alles ließ sich vom Menschen herleiten. Doch hier gab es in erster Linie Tiere, die nach Nahrung suchten: schwarze Eichhörnchen, Hasen, Igel. Einige mutige Füchse und Rehe, die sich talabwärts wagten, auf der Suche nach etwas zu fressen, bevor der raue Winter Einzug hielt.
»Wir sind gleich an der Stelle, wo man das Mädchen aufgefunden hat«, sagte Funi plötzlich.
»Haben Sie die markierten Baumstämme gesehen?« Maria Dolores zeigte auf die tiefen
Weitere Kostenlose Bücher