Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich vergebe dir - Bucciarelli, E: Ich vergebe dir - Io ti perdono

Ich vergebe dir - Bucciarelli, E: Ich vergebe dir - Io ti perdono

Titel: Ich vergebe dir - Bucciarelli, E: Ich vergebe dir - Io ti perdono Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabetta Bucciarelli
Vom Netzwerk:
durchkämmen, in Richtung Berge. Dort, wo sich die alten Goldminen befanden. Sie stammten noch aus einer Zeit, als man hier echte Goldklumpen aufspüren konnte. Einer davon war noch heute im Naturkundemuseum in Mailand ausgestellt. Sie streunte im Wald umher, sammelte Kastanien und Nüsse. Die Natur war großzügig. Maria Dolores trug einen Weidenkorb bei sich, in der Hoffnung, auf ein paar Steinpilze zu stoßen. Zunächst begegnete sie hier und da noch einer Menschenseele, doch umso mühsamer der Aufstieg wurde und die Stunden vergingen, desto einsamer wurde die Gegend. Die Menschen waren faul. Nur dort, wo Autos hingelangten, fand man sie in Rudeln.
    Noch der letzte Pass, dann war Schluss. Dann und wann klingelte ihr Handy: Funi erkundigte sich mit kratziger Stimme nach ihrem Befinden. Er machte sich Sorgen. Sie nicht. Unbewusst oder im Inneren ihres Herzens wusste sie genau, dass Don Paolo exakt auf das Profil des Entführers und Vergewaltigers der Kinder passte. Die Bärenmutter, die sie versorgte. Deswegen hatte er den Eltern auch davon abgeraten, Anzeige zu erstatten, und hatte nicht mit ihr sprechen wollen. Er hatte geahnt, dass sie ihn nicht verstehen würde. Nein, sie würde nichts finden, würde nichts zu befürchten haben. In diesen Wäldern war sie Zuhause, seit ihrer Kindheit. Schon damals streiften sie hier Stunde um Stunde durch das Unterholz, ohne dass sie sich jemals beschwert hätte. Sie lag auch stundenlang in ihrer kleinen Wiege, ohne zu weinen. Wie lange wird sie wohl geschrien haben, als man sie fortgab? Wie lange hatten die Krankenschwestern wohl gebraucht, um sie zu beruhigen? Wie viele verlorene Küsse, wie viele unerwiderte Umarmungen? Wie verzweifelt mochte die zurückgelassene, kleine Maria gewesen sein?
    Maria Dolores lief und lief. Dachte nach. Darüber, dass sie den anderen nicht vergeben konnte. Über die Worte des Priesters: Du bist noch weit entfernt von Mitleid und Vergebung. Die Wahrheit konnte auch ganz anders aussehen. Er hatte vergeben. Hatte das Monster zur Beichte empfangen und gesühnt wieder fortgeschickt. Er, die Hand Gottes, sein Stellvertreter auf Erden. Dazu befugt, Sünden zu erlassen, selbst die schlimmsten. Ganz anders in ihrem Fall. Sie war menschlich, fehlbar, nicht freigesprochen. Überzeugt, in jedem das Gute zu sehen, und dennoch immer mehr vom Bösen angezogen. Das sie, ein ums andere Mal, mit ihrem Leiden rechtfertigte. Sie und ihr Panzer vermeintlicher Wahrheiten. Denn nur wer selbst ein Loch im Herzen spürte, konnte das zerrissene Herz anderer nachempfinden. Und suchte die Nähe zu Menschen, die ähnlich waren. Verdammt und dazu gezwungen, mit dem Bösen abzurechnen, in jedem Moment des Lebens. Ihr Telefon vibrierte, und noch einmal musste sie abheben.
    »Hallo, Michele.«
    »Wo bist du?«
    »Im Wald.«
    »Ich bin hier in Stellung. Vor mir findet jeden Moment eine Apokalypse statt.«
    »Pass auf dich auf.«
    »Du auch. Im Grunde weißt du selbst, dass dein Priester nicht sauber war.«
    »Ich wäre gerne so sicher wie du. Wie ihr alle.«
    »Du bist stur wie ein Esel, Maria Dolores.«
    Sie war noch immer am Telefon, als sie vor sich den Eingang zu der alten Mine erblickte. Von Moos und Flechten befallene Holzbalken lagen herum. Alte Schilder verbaten den Zutritt und fassten die Geschichte der Minen zusammen. Autor und Zeit unbekannt. Sie kannte diese Schilder auswendig. Doch eine Schnur, die zwischen zwei Bäumen gespannt war, passte nicht in dieses Bild. Daran hingen Kinderkleider, zum Trocknen aufgehängt. Ihr stockte der Atem. Sie legte nicht auf, bat Michele, in der Leitung zu bleiben. Ohne eine Erklärung. Dann steckte sie das Telefon in ihre Tasche, ließ den Korb zu Boden fallen und kramte nach ihrer Kamera. Dann wurde es dunkel um sie herum.

87
    Als sie wieder erwachte, war es mitten in der Nacht, und sie lag am Straßenrand. Das Auto eines stämmigen deutschen Touristen auf der Heimfahrt vom allabendlichen Besäufnis, dem einzigen Sport, den man hier im Tal betrieb, konnte ihr nur knapp ausweichen. Keine einzige Straßenlaterne. Der Mann fuhr an die Seite, stieg aus und torkelte auf sie zu. Er lallte etwas in seiner Sprache und half ihr dann in sein Auto.
    Langsam kam sie wieder zu sich. Sie tastete nach ihrem Handy und fand es in ihrer Tasche, wo sie es zuletzt verstaut hatte. Es war ausgeschaltet. Sie versuchte es erneut einzuschalten, doch ohne Erfolg. Wo war ihre Kamera? Keine Spur davon. Ebenso wie von ihrem Rucksack, dem Korb und dem

Weitere Kostenlose Bücher