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Ich waer so gern ganz anders, aber ich komme einfach nicht dazu

Ich waer so gern ganz anders, aber ich komme einfach nicht dazu

Titel: Ich waer so gern ganz anders, aber ich komme einfach nicht dazu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Weiner
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zügigen Abwandern von Anlaufpunkten.
    Vielleicht hatte er sogar ein rotes Notenbüchlein in der Tasche. Helga war jedenfalls keine Einserschülerin. Sie »hing hinten«. Als sie von ihrer Reise zurückkam, erzählte sie mir von ihrem Rennurlaub. Aber statt sich selbst zu kasteien und zu sagen: »Immer war ich die Letzte in der Gruppe. Wäre ich nur schneller gewesen, hätte ich mich nur mehr angestrengt, dann wäre alles gut gewesen!«, stellte sie fest: »So schade es auch ist, diese Art von Wandergruppe passt nicht mehr zu mir.« Bei Helga hatte sich also schlicht die Vergleichsgruppe geändert. Hatte sie früher auch den schnellen Schritt gepflegt, so ist ihr jetzt der gemächliche Schritt sympathisch.
    Wenn die Verhältnisse nicht stimmig sind, kann dies einer der Gründe sein, warum man sich falsch, unzulänglich oder anders fühlt: Wenn die Vergleichsgröße nicht passt, dann schafft man es nie und wird auch nicht richtig glücklich. Für den nächsten Sommer entschied sich Helga dafür, eine andere Wandergruppe mit gemäßigten Wanderzielen zu finden und hat eine Kräuterwanderung auf Malta gebucht. Das klingt nach Wandern (was sie liebt) und ist zugleich beschaulich (was sie braucht).
    Manche Menschen halten zu lange Zeit an veralteten und überholten Vergleichswerten fest, manchmal ohne es zu merken. Denn im Laufe der Zeit verändern wir uns – und nicht nur wir: Auch diejenigen, an denen wir uns früher gemessen haben, nach deren Anerkennung wir strebten, entwickeln und wandeln sich. Und so kann es sein, dass sich auch aus diesem Grund die Maßstäbe ändern und die Verhältnisse verschieben: Was uns früher erstrebenswert schien, ist uns heute egal – und das, was uns jetzt am Herzen liegt, wird von der Umgebung kaum gewürdigt. Beides Mal ein Zeichen dafür, dass sich etwas in der Struktur verändert hat, denn der Vergleich greift nicht mehr, weil aus irgendeinem Grund die gemeinsame Grundlage fehlt. Vielleicht hat der Vergleich auch nie wirklich gepasst, weil wir von anderem Wesen sind als die Menschen, mit denen wir uns verbinden oder vergleichen wollen.
    Gelegentlich haben wir auch Glück und das Leben hilft uns schnell zu erkennen, dass unsere eigene Vorstellung nicht stimmt. So erging es zum Beispiel Paul, einem meiner Klienten, der zu mir kam, weil er in seiner Ehe unglücklich war und nicht wusste, wie er sich, sein Leben und sein Familienleben ändern konnte, um endlich zufrieden zu sein. Sein Traum war, ein erfüllendes Familienleben zu führen wie er es Maurice zuschrieb, einem Arbeitskollegen, der in der Firmenniederlassung in Paris arbeitete. Die beiden kannten sich ausschließlich über die virtuelle Zusammenarbeit und dennoch war daraus im Laufe der Zeit eine richtige Freundschaft gewachsen. Maurice hatte Paul Fotos geschickt, auf denen er mit seiner Frau und seinen beiden Kinder zu sehen war: in, vor und neben dem frisch renovierten Haus, im Garten mit den blühenden Fliederbüschen, Rosenbeeten, alten Eichen und einem Baumhaus für die Kinder. »Ich will auch in so einer Idylle wohnen«, gestand Paul, als er zu mir kam. »Genau genommen, will ich am liebsten das Leben von Maurice kopieren. Mit meiner Frau Elke durchlebe ich gerade eine tiefe Krise. Die Fotos von Maurice wühlen mich auf: Ich bin traurig, weil ich nicht so lebe wie er, neidisch, weil Maurice dieses ganze Glück einfach so hat und ich nicht, und ich bin wütend, weil ich mit Elke nicht vom Fleck zu kommen scheine.«
    Paul folgte schließlich einer Einladung von Maurice und besuchte ihn und seine Familie in Paris. Ahnen Sie, was nun geschah? Das Wohnviertel, in dem die Familie wohnte, war sauber-verklemmt, die Kinder würdigten Pauls Mitbringsel kaum eines hochnäsigen Blicks und hockten den ganzen Tag vor dem Fernseher. Die Frau von Maurice hatte sich zurückgezogen. Sie und ihr Mann hatten schon seit längerer Zeit getrennte Schlafzimmer, weil es ein Suchtproblem gab, das drohte, die Familie zu zerstören. Der Garten, in dem sich Fliederbusch, Rosenbeet und Eiche samt Baumhaus befanden, wirkte unbelebt, eher wie eine Kulisse. Es war eine Beziehung, wie es viele gibt. Menschen, die sich mit den Jahren verloren hatten und die gerade dabei waren, das zu erkennen und wieder aufeinander zuzugehen. All die Probleme, die Paul hatte, waren auch Maurice bekannt – nur hatten beide nie darüber gesprochen. Später stellte sich heraus, dass Maurice sein Leben auch deshalb so perfekt darstellte, weil er hoffte, dass der Wunsch

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