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Ich war ein Glückskind - mein Weg aus Nazideutschland mit dem Kindertransport

Ich war ein Glückskind - mein Weg aus Nazideutschland mit dem Kindertransport

Titel: Ich war ein Glückskind - mein Weg aus Nazideutschland mit dem Kindertransport Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: cbj Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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eingerichteten Wartesaal verabschieden, damit es am Bahnsteig und bei der Abfahrt des Zuges, der ihre Kinder in ein fernes Land brachte, in die Obhut fremder Menschen, nicht zu dramatischen Szenen kam.
    Bezahlt wurden diese Zugreisen nach England vom Refugee Children’s Comittee, dem Kinderflüchtlingskomitee.
    Anders verhielt es sich, wie ich später erfuhr, mit den Fahrtkosten der sechs Millionen Juden, die in die KZ s deportiert wurden.
    Diese wurden von den Behörden gezwungen, bei der SS ihre Zugfahrkarten zu kaufen.
    Die wohlhabenderen Juden leisteten sich den Aufpreis für die erste Klasse – ohne zu ahnen, dass sie ohnehin in Viehzügen zu den Todeslagern transportiert werden würden, wo sie vergast und anschließend verbrannt werden würden.
    Liebes Tagebuch,
    es ist jetzt Viertel nach neun am Morgen des 4. Juli 1939 und ich schreibe dies im Zug nach Hoek van Holland.
    Vor einer halben Stunde sind wir in Berlin abgefahren, und ich komme mir vor wie in einem schrecklichen Albtraum, aus dem es kein Erwachen gibt.
    Um mich herum Kinder, die ohne Unterlass heulen und weinen.
    Vier der sechs Mädchen in meinem Abteil schluchzen noch immer.
    Das fünfte isst ein belegtes Brot, das sechste schreibt eine Postkarte an seine Familie.
    Ich weiß, ich sollte mit ihnen reden und mich vielleicht auch mit ihnen anfreunden, aber das kann ich im Moment noch nicht.
    Ich denke nur an Papa, der ohne mich zurück zu Mama geht.
    Sein Herz ist bestimmt ganz schwer vor Kummer. Er ist sicher sehr traurig. Ab jetzt wohnen er und meine arme Mama ganz allein in unserer kleinen Limonenwohnung.
    Wie meine Eltern sich wohl fühlen? Ich mag es mir gar nicht vorstellen.
    Und ich kann nicht aufhören, mich nach dem Grund zu fragen. Warum haben sie uns auseinandergerissen? Warum mussten wir uns trennen? Warum hassen sie uns so sehr und wollen uns so schrecklich wehtun?
    Es gibt keine Antwort. Und selbst wenn es eine gäbe, wäre sie unwichtig. Die Nazis führen durch, was sie sich vorgenommen haben: jüdische Kinder ihren Eltern wegzunehmen und uns mit praktisch nichts und niemanden in eine fremde Welt zu werfen.
    Als Papa und ich heute Morgen um sieben Uhr am Bahnhof Friedrichstraße ankamen, wurden wir von SS -Offizieren gleich in einen großen Wartesaal geschickt, in dem es von Eltern und Kindern wimmelte.
    Darin roch es so stark nach Desinfektionsmittel, dass ich kaum atmen konnte. Die Wände waren schwarzgrau, und obwohl draußen ein klarer Himmel war (trotz allem ist heute schönes Wetter), haben fast alle Menschen im Wartesaal geweint.
    Ich nicht und Papa auch nicht.
    Er hat mich aufmunternd angelächelt, als er die Schleife in meinem Haar gerade rückte, und ich habe zurückgelächelt.
    Dann hat er sich gebückt und meine Schnürsenkel nachgezogen, und ich habe gesehen, dass er dabei vor Schmerz zusammengezuckt ist.
    »Vergiss nie, Marion«, sagte er, »körperliche Schmerzen sind nicht die schlimmsten …«
    Seine Worte hingen in der Luft.
    Der schlimmste Schmerz ist, wie ich jetzt weiß, wenn du dich von jemandem verabschieden musst, den du liebst, während alle um dich herum weinen und schreien. Ein kleiner Junge in meiner Nähe hat sich an den Rock seiner Mutter geklammert und geschrien: »Mutti, Mutti! Nimm mich wieder mit nach Hause! Ich will nach Hause! Bitte, bitte, nimm mich mit!«
    Und ein anderer, trotziger Junge hat mit dem Fuß aufgestampft und gerufen: »Du hast mich nicht mehr lieb! Sonst würdest du mich nicht wegschicken, das weiß ich!«
    Das dachte ich nicht, kein bisschen.
    »Papa und mir fällt es sehr schwer, dich nach England zu schicken, Marion, mein Püppchen, aber wir denken, dass es das Beste für dich ist. Und wir werden nachkommen, sobald wir können«, hat Mama gesagt, bevor Papa mich zum Bahnhof brachte.
    Als sie mich an diesem Morgen gekämmt hat, mit fünfzig Bürstenstrichen wie immer, sagte sie auch: »Du musst es als Abenteuer sehen, als einen Ferienaufenthalt und eine Erfahrung, an die wir eines Tages gemeinsam zurückdenken und über die wir uns freuen werden.«
    Im Wartesaal hat Papa meine Hand gehalten, und da hab ich die Stelle gestreichelt, wo er früher einen Daumen hatte.
    In diesem Moment erhob sich ein junger Mann von einem Stuhl und machte eine Ankündigung.
    Dieser junge Mann war Norbert Wollheim, ein 26-jähriger Berliner, Direktor des Zentralrats der Juden in Deutschland, der für die Abwicklung der Kindertransporte von Berlin aus zuständig war.
    Folgendes hat er zu den Eltern und

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