Ich war Hitlerjunge Salomon
mit
nach Hause zu nehmen. Wir schworen, nichts von meinem
Geheimnis und meinem dramatischen Schicksal zu verraten.
Einige Wochen waren vergangen, als ein furchtbares Un-
glück geschah. Der rasche Vormarsch der Wehrmachtstruppen
kam irgendwo in der Umgegend der Moskauer Vorstädte zum
Stillstand. Fortan gab es hauptsächlich Stellungskämpfe. Die
letzten Herbsttage waren gekommen.
Die Oberste Heeresleitung entschied, daß man sich mit
der Übergabe Leningrads – das seit Monaten belagert wurde
– begnügen müsse, wenn man schon Moskau augenblicklich
nicht einnehmen könne. Meine Division wurde also nach
Norden verlegt, um an dieser Operation teilzunehmen. Un-
terwegs kam das Gerücht auf, daß wir alle, um wieder Kraft
zu schöpfen, Fronturlaub erhielten und nach dem Sieg nach
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Frankreich versetzt würden. Man hatte die Meldung in Umlauf
gebracht, um die Soldaten anzufeuern. Nun begannen endlose
Diskussionen über französische Weine, die berühmte franzö-
sische Küche und die Frauen, die nicht ihresgleichen hatten
auf der Welt. Jeder malte sich die tollkühnsten Geschichten
aus. Ich bedaure, damals diese unglaublichen Phantasien nicht
aufgeschrieben zu haben. Beim Zuhören träumte auch ich von
Frankreich und seinen Wundern, und auch ich wäre lieber
dort gewesen. Ich verspürte nicht die geringste Lust, weiter
an der Front zu bleiben, wo ich unablässig Gefahr lief, an
einem Granatsplitter oder einem Irrläufer zu sterben. In der
Uniform meiner Feinde durch eine Kugel meiner Verbünde-
ten zu sterben! Welch groteske Tragödie! Doch was macht es
schon für einen Unterschied, durch welche Kugel man stirbt!
Kurz darauf erreichten wir die Wälder um Leningrad und
begannen, uns zum Angriff zu rüsten. Man brachte »Goli-
aths«, um die Befestigungen der Stadt zu durchbrechen. Diese
»Goliaths«, ein neues, mysteriöses Kriegsgerät, waren winzige,
dynamitgefüllte Spähwagen, die in die befestigten Bunker
eindringen und dann dort explodieren sollten.
Der Mißerfolg hätte nicht größer sein können. Sie versanken
alle ohne Ausnahme in den tiefen Sümpfen um Leningrad.
Zudem hatten die Russen ebenfalls etwas »erfunden«, eine
einfache, doch sehr wirkungsvolle Maschine: den »Eisernen
Iwan«, ein zweimotoriges gepanzertes Flugzeug, das in den
hellen Leningrader Nächten in lautlosem Tiefflug über die
deutschen Konvois strich und Verheerungen anrichtete. Nach-
dem es einige Bomben abgeworfen hatte – die stets ihr Ziel
trafen –, schoß es mit leichten Maschinengewehren aus dem
Hinterhalt präzise weiter. Man befahl uns, aus den Fahrzeugen
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zu springen und das Feuer zu eröffnen, doch es war sinnlos.
Ich erinnere mich noch genau an diese Szenen, die sich na-
hezu jede Nacht wiederholten, an die Schreie, das Laden der
Gewehre und den Beschuß durch die Flugzeuge über unseren
Köpfen. Bei solchen Zwischenfällen war mir jeder beliebige
große Gegenstand als Schutz recht, ich duckte mich dahinter
und beobachtete das surrealistisch anmutende Schauspiel. Doch
trotz aller Mißerfolge und Verluste ließen sich die Deutschen
von der Einnahme Leningrads nicht abbringen. Die Einheit
bezog in Schlüsselburg Quartier, von wo aus man die leuchten-
den Dächer der Stadt sehen konnte. Wieder befand ich mich
auf einer dicht an der Front verlaufenden Linie. Überall wur-
den verstärkte militärische Vorbereitungen getroffen. Schweres
Geschütz wurde hinten in Stellung gebracht, während man
die Panzer nach vorn schob und jeder sich seinen eigenen
Graben aushub. Unteroffiziere wurden zum Kommandoposten
beordert, um Weisungen entgegenzunehmen. Die Stunde X
war auf den Tagesanbruch des folgenden Morgens festgesetzt
worden. Unter den Soldaten stiegen Nervosität und Spannung:
Alle wollten rasch siegen, am Leben bleiben und bis zu den
versprochenen romantischen Ferien in Frankreich durchhalten.
In der Nacht warf der »Eiserne Iwan« von Marschall Wo-
roschilow unterzeichnete Flugblätter ab, in denen die Sowjets
ankündigten, die Stadt bis zum letzten Überlebenden zu ver-
teidigen. Die Feindhandlungen verliefen nicht mehr so, wie es
sich die Deutschen gedacht hatten. Eine Stunde vor Beginn
unseres Angriffs eröffneten die Sowjets das Feuer. Unsere
Stellungen wurden unter massiven Mörser- und Granatbe-
schuß genommen, was Menschenleben kostete und einen
erheblichen Materialverlust verursachte. Wie unter Schock
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verharrte ich reglos auf dem Fleck
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