Ich war Hitlerjunge Salomon
Ausrüstung
komplettiert werden.
Ich wurde als Dolmetscher der Heeresverpflegungsdienst-
stelle 722 Reval zugeteilt, die ihren Sitz im Zentrum der
Hauptstadt Reval hatte (heute Tallin). Wir waren hingerissen
von der Schönheit der Häuser, der Paläste und Blumengärten.
Die Einheit 722 hatte ein herrliches Stadtgebäude bezogen.
Die Mannschaften wohnten zu zweit in einem Zimmer, den
Offizieren hatte man geräumige Wohnungen zugestanden.
Aufgabe der Einheit war es, die Verpflegung für die gesam-
te Nordfront zusammenzustellen und zu liefern. Mit Waren
gefüllte Lastwagen trafen aus vielen Gebieten ein. Mit Hilfe
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russischer Kriegsgefangener wurden die Waren in Eisenbahn-
waggons verladen, die an die Front fuhren.
Zur Einteilung von Arbeitsgruppen wurde in dem kleinen
Gefangenenlager jeden Morgen ein Appell abgehalten. Ich
mußte die Tagesbefehle, die Art der Arbeiten, die Diszipli-
narvorschriften und Strafen im Falle von Nachlässigkeit oder
Diebstahl übersetzen.
Es handelte sich um Elitegefangene, Intellektuelle von an-
genehmem Äußeren, die sich in guter körperlicher Verfassung
befanden. Zwischen ihnen und mir bahnte sich schnell eine
freundschaftliche, verständnisvolle Beziehung an. Mehr als
einmal schloß ich die Augen, wenn einer eine lange Wurst in
seine weite Hose steckte oder ein großes Stück Rauchfleisch
verschwinden ließ. Ich lächelte bloß und ging zur Tagesord-
nung über.
Einmal kam es zu einem kleinen Zwischenfall mit einem
von ihnen. Natürlich wurde auch er nur Iwan genannt – so
wie später die Russen alle Deutschen Fritz nannten, als sich
die Situation umgekehrt hatte. Wir begegneten uns während
einer Pause in einer Baracke des Güterbahnhofs. Und da
machte er eine sonderbare Bemerkung: »Ich stelle interessiert
fest, daß Sie als einziger kein rollendes ›r‹ sprechen. Bei Ihnen
wird daraus ein kehliges ›kh‹, wie es für Juden typisch ist. So
sagen Sie zum Beispiel Abkhascha anstatt Abrascha !«Ohne mit der Wimper zu zucken, erwiderte ich, daß ich nicht verstünde,
worauf er hinauswol e, und wies ihn an, mit seinen Kameraden
die Arbeit wiederaufzunehmen. Jeder ging seiner Wege, und
das Thema wurde nicht wieder angeschnitten. Aber es war
offensichtlich, daß dieser Mann meine wahre Herkunft erraten
hatte. Der Gedanke, daß er in anderen Köpfen Verdacht säen
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könnte, beunruhigte mich heftig. Aber ich hatte gelernt, mich
vor der tödlichen Bedrohung, die ständig über mir schwebte,
zu wappnen und mit ihr umzugehen: Ich ließ letztendlich
gegenüber den Russen niemals einen Zweifel daran aufkom-
men, daß ich ein deutscher Soldat sei.
In Reval befreundete ich mich mit einem reizenden jungen
Mädchen, das ein paar Jahre älter war als ich, Lee Moreste
hieß und in der Viruväliakstraße 3 wohnte. Ich ging praktisch
jeden Abend zu ihr. Eines Abends fragte mich ihre Mutter:
»Warum behandelt ihr Deutschen die Juden so grausam?«
Mir gingen viele Gedanken durch den Kopf in diesem Au-
genblick, vor allem der, mich zu offenbaren. Aber ich schwieg
und entschied kurzerhand, in ihren Augen ein Deutscher zu
bleiben. Die Situation war gefährlich, ihre Reaktion nicht
vorauszusehen. Auf ihre Frage nun antwortete ich, daß mich
dies auch nicht befriedigte, es aber schwierig wäre, etwas zu
ändern. Wegen dieser so berechtigten Frage werde ich Frau
Moreste nicht vergessen. Ihre Tochter Lee werde ich nicht
vergessen, weil sie die erste Frau in meinem Leben war.
Von Zeit zu Zeit besuchte mich Hauptmann von Münchow
oder erkundigte sich nach mir. Er freute sich zu hören, daß
alles in Ordnung sei, mir Aufenthalt und Arbeit gefielen. Die
Neuigkeit, die er aber jetzt überbrachte, gefiel mir weniger. Es
hatte sich nämlich herausgestellt, daß die Armee auf mich als
einen Minderjährigen verzichten mußte, was ich heftig bedau-
erte. Die Einheit hatte mich schnellstens »heim ins Reich« zu
schicken. Eine Delegierte, die mich in »mein neues Vaterland«
begleiten sollte, würde binnen kurzem eintreffen.
Ich hatte niemals auch nur eine Sekunde gewünscht, in
das Innere des Reichs zu gelangen, wo es von Gestapo und
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Polizei wimmelte. Das war, als würfe ich mich in die Höhle
des Löwen. Ich wußte, daß ich mich dort weder verstek-
ken noch bei Gefahr fliehen konnte. Ich hörte kaum Herrn
Hauptmann seiner Befriedigung darüber Ausdruck geben, daß
mir die Rückkehr ins Vaterland vergönnt sei. Nur mit Mühe
konnte
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