Ich war Hitlerjunge Salomon
die Hotelstu-
fen hinaufstieg oder durch eine Tür trat. Meine Begleiterin
heftete mir gerührt ein rundes, auffallendes Abzeichen, das
Hakenkreuz in einem goldenen Lorbeerkranz, an das Revers
meines neuen Anzugs.
Äußerlich sah ich aus wie einer von ihnen. Alle hatten
mich »Heil Hitler!« grüßen sehen. Und obwohl es verwundern
mag, muß ich gestehen, daß die Sache anfing, mir Spaß zu
machen und zu schmeicheln.
Heute, mit dem Abstand von rund fünfzig Jahren, bin
ich mir im klaren darüber, daß damals ein ganz bestimmter
Prozeß in mir in Gang gesetzt wurde. In diesem Hotel wurde
der Keim zu meiner späteren Identifikation mit der national-
sozialistischen Ideologie gelegt.
Will man diesen Prozeß verstehen, muß man sich die see-
lische Notlage vorstellen, in der ich mich befand. Ich war
ein Einzelkämpfer in einem Meer von Hakenkreuzen, und
dies nur, um das Todesurteil hinauszuzögern, das über mich
gefällt worden war, weil ich Jude war. Ich wollte leben, noch
eine Stunde, einen Monat, viel eicht ein Jahr überleben, wol te
einfach am Leben bleiben.
Ich mußte um jeden Preis ihrer perfekten Vernichtungs-
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maschinerie entgehen. Aber ich hatte keine einzige Waffe zu
meiner Verteidigung. Ich besaß lediglich ihre Uniform und
ihre Abzeichen. Und wenn ich jetzt noch da bin und diese
Geschichte erzählen kann, so nur, weil ich gelernt hatte, mich
wie sie aufzuführen und ohne Zögern meine Nazirol e zu spie-
len. Ich habe mich ganz und gar meinem Selbsterhaltungstrieb
überlassen, der mir unablässig das richtige Verhalten eingab.
Mein wahres »Ich« verdrängte ich nach und nach. Es konnte
vorkommen, daß ich sogar »vergaß«, daß ich Jude war.
Und nichts hinderte mich damals daran, die Gesellschaft
meiner Begleiterin und die Schönheit der Berliner Sehens-
würdigkeiten zu genießen. Ich ging sogar zum ersten Mal in
meinem Leben in die Oper. Die Deutsche Staatsoper führte
Richard Wagners Tannhäuser auf, was fünf Stunden dauerte.
Die ganze Zeit über lauschte ich gebannt dieser grandiosen
Musik. Ich war wie verzaubert von den Bühnenbildern und
der Theateratmosphäre.
Unterdessen hatte man mir meinen künftigen Wohnort
mitgeteilt: ein Internat in Braunschweig. Ich hätte schreien
mögen: »Nein! Bloß nicht dort hin!« Peine, wo ich geboren
wurde, lag dicht bei Braunschweig. Man hätte den jüdischen
Nachbarsjungen Sally wiedererkennen können, was fatal ge-
wesen wäre. Deutschland war doch so groß, besaß unzählige
Städte und Internate. Warum hatte das Schicksal gerade diese
Stadt ausersehen? Warum machte sich das Schicksal so gna-
denlos über mich lustig?
Ich verbot mir diese Gedanken und setzte ein gezwun-
genes, freudiges Lächeln auf. Als ich mich von meiner Ver-
blüffung erholt hatte, konnte ich wieder denken, und ich
sagte mir: »Da mein Lebensweg merkwürdig krumm verläuft,
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führt er mich nicht geradeaus, sondern bringt mich an den
Ausgangspunkt zurück. Vor sechs Jahren habe ich wegen der
furchtbaren Verfolgung durch die Nazis Peine unfreiwillig
verlassen und bin nach Osten, nach Lodz gegangen. Von
dort aus bin ich zwei Jahre später nochmals geflohen. Dann
eine erneute Flucht, diesmal nach Minsk. Danach gelangte
ich unter falschem Namen bis in die Vorstädte Moskaus, in
den Norden Leningrads und nach Tallin, und jetzt komme
ich mit Hilfe einer Sonderdelegierten bis in die Umgebung
meiner Heimatstadt. Als Sally bin ich gegangen, als Josef
kehre ich wieder. Bin wirklich ich es, der wiederkehrt? Als
Kind bin ich aufgebrochen, heute bin ich ein junger Mann
mit einem anderen Namen, trotzdem bleibt es dasselbe Ich.
Wie kann dies alles angehen?«
– Jahrelang ging mir eine Frage nicht aus dem Sinn: Warum
wurde mir die große Ehre einer eigens für mich abgestellten
Beamtin zuteil? Die Antwort erhielt ich anläßlich meines er-
sten Treffens mit den ehemaligen Kameraden der 12. Pom-
merschen Panzerdivision in Heppenheim bei Frankfurt, zu
dem »Josef Perjell, wohnhaft in Israel«, eingeladen worden
war, und es kam Sally Perel. Das war 1987. Sie erzählten mir,
daß die Nichte Joachim von Münchows, Henriette, Tochter
des Leibphotographen und Kunstberaters Hitlers, Hoffmann,
mit dem später in Nürnberg verurteilten Reichsjugendführer
Baldur von Schirach verheiratet gewesen war.
Diese Henriette von Schirach meldete sich bei mir, als
sie aus den Medien von meiner Geschichte erfahren hatte.
Sie schickte mir ihr
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