Ich war Hitlerjunge Salomon
worden sei und
es ein Vorrecht bedeute, zu den Schülern dieser einzigartigen
Schule zu zählen.
Die Fassade des Heims Nr. 7 machte großen Eindruck
auf mich. Die pompöse Eingangshalle wurde als Lesesaal
genutzt. Auf den viereckigen Tischen lagen verschiedene
Zeitungen aus, in den Regalen an den Wänden standen
zahllose Bücher. Das Büro des Heimführers befand sich an
der Kopfseite der Halle, rechts verlief ein breiter Flur, von
dem die Zimmer abgingen. Dieser Flur wiederum mündete
in die Waschräume und Toiletten. Links vom Lesesaal führte
eine Treppe in das zweite Geschoß. An einer Wand fiel auf
einem in Fraktur geschriebenen Plakat Hitlers Ermahnung
der deutschen Jugend auf: »Sei hart wie Krupp-Stahl, zäh
wie Leder und flink wie ein Windhund!« Der Heimführer
zeigte mir mein Zimmer, riet mir, mich einzurichten, mich
etwas auszuruhen und dann in seine Kanzlei zu kommen.
Mein Zimmer war das zweite von rechts. Zwei Betten, zwei
Schränke, zwei Schreibtische und Stühle möblierten es. Ge-
bäude und Zimmer waren leer zu dieser Stunde. An der
Wand über meinem Bett belehrte mich ein Spruch über
»die Reinheit des germanischen Blutes«, die hauptsächlich
auf dem Land bewahrt werden würde.
Das Zimmer war geräumig und funktional. Ich legte mei-
ne Sachen in eine Ecke, schloß die Augen und atmete erst
einmal durch. In der bedrückenden Stille hörte ich meinen
Herzschlag.
»Oh Allmächtiger, was soll werden? Welche Art Überleben
hältst du für mich bereit? Soll ich lachen oder weinen? Nein,
weinen gewiß nicht, nur Mut brauche ich, Mut! Jedenfalls
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muß ich das Schloimele in mir vergessen und anfangen, ein
Hitlerjunge, ein echter Josef zu werden.«
Ich machte mich ans Einräumen. Völlig ruhig packte ich
meine Sachen aus und legte sie in peinlicher Ordnung in
den leeren Schrank. Nur meine Flasche französischen Co-
gnac nicht, denn die wollte ich dem Heimführer schenken.
Ich wußte, daß alkoholische Getränke, und besonders von
solcher Qualität, hier kaum erschwinglich waren; diese Geste
würde mir sicher seine Achtung verschaffen und mir bei der
Eingewöhnung helfen.
Ich setzte mich einen Augenblick auf das Bett, ich wollte
mich kurz ausruhen und sammeln. Plötzlich veranlaßte mich
heftige Neugierde, einen Blick in die Waschräume und Toi-
letten zu werfen. Natürlich war mir bewußt, daß ich mich
nicht mit meinen Mitschülern duschen, daß niemand meine
Beschneidung entdecken durfte. Bei diesem Gedanken er-
schauerte ich. Ich wollte die Örtlichkeiten inspizieren, bevor
meine Kameraden und Zimmergenossen zurückkehrten.
Ich wurde angenehm überrascht. Meine Befürchtungen
erwiesen sich als übertrieben. Die einzelnen Duschen waren
durch dicke Milchglasscheiben voneinander getrennt. Beru-
higend. Der Umkleideraum dagegen gefiel mir weniger. Ich
würde mich mit den anderen zusammen aus- und anziehen
müssen. Also überlegte ich, wie ich die Gefahr am geschick-
testen abwenden könnte. Die Toiletten entsprachen meinen
Vorstellungen und stellten aller Wahrscheinlichkeit nach kein
Hindernis dar.
Ich ging hinein und verriegelte die Tür hinter mir. Al es war
sauber und glänzte wie nagelneu. An einer Wand hatte man
versucht, Goethe zu zitieren: »Laß dich nicht aus der Ruhe
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bringen, denk an den Spruch von Götz von Berlichingen: ›…
und dem König richtet aus, am Arsche soll er mich lecken!‹«
Ich las diesen deutlichen Satz nochmals und beschloß, als
ich wieder in den Flur hinaustrat, es von nun an ebenso zu
halten, und meine gute Laune in diesem Augenblick ließ mich
wünschen, die anderen möchten es mir gleichtun.
In meinem kurzen Leben hatte ich bereits eines gelernt: mich
anzupassen und unvermutete Schwierigkeiten zu überwinden.
Ich hatte das Gefühl, daß wenn es mir schon gelungen war,
mich für einen »tapferen Frontkämpfer« auszugeben, ich auch
imstande wäre, das Problem der Beschneidung zu lösen und
als makelloses Mitglied der Hitlerjugend zu gelten.
Ich kehrte in mein Zimmer zurück und bereitete mich auf
die Unterredung mit dem Heimführer vor. Ich ließ meinen
Lebenslauf noch einmal Revue passieren, würzte ihn mit einer
Mischung aus Wahrheit und originellen Lügen. Dann ergriff
ich die Flasche Cognac und machte mich auf den Weg zur
Kanzlei des Heimführers Karl R. Schon im Korridor hörte
ich Lachen. Man schien aufgeräumter Stimmung zu sein. Ich
verharrte einen Augenblick, um etwas
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