Ich war Hitlerjunge Salomon
auf die Stätten meiner glück-
lichen Kindheit werfen und mich eilends davonmachen. Ich
wollte in die Erinnerung an mein Vaterhaus, den Kindergarten
und die Schule eintauchen. Denn ich hatte ja jetzt weder ein
Zuhause noch wahre Freunde. Wie ein Unschuldslamm war
ich gegangen, wie ein vom Wolf gehetztes Schaf kehrte ich
wieder. Doch dieses Schaf hatte seinen Pelz zu wenden gewußt.
Es ähnelte den anderen wilden Tieren; dies war seine einzige
Chance, den Henkern zu entkommen. Es sei denn, die Henker
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witterten etwas und kamen ihm auf die Schliche … Aber ich
stel te fest, daß Salomon – entgegen ihrer Überzeugung – kein
besonderer Geruch anhaftete …
Eine ganze Weile betrachtete ich die Landschaft von mei-
ner Holzbrücke aus. Die Bretter schienen unter dem Tritt der
genagelten Stiefel gelitten zu haben. Ich stand und dachte
an die andere Brücke, die Brücke der Wahnideen, über die
man mich in die Fremde gejagt hatte. Aber meine Brücke
war endgültig hinter mir abgebrochen, oder würde sie eines
Tages von neuem die Gleise für mich überspannen? Würde ich
eines Tages als freier Mann, als Sal y Perel, hier wieder stehen?
Ich strich meine schwarz-braune Unform glatt, rückte meine
schwarze Krawatte zurecht, schaute auf das Hakenkreuz auf
meiner Armbinde und setzte mich langsam in Bewegung. Ich
starrte in die Schaufenster, um keine neugierigen Blicke auf
mich zu ziehen. Vor einer mir wohlbekannten Auslage blieb
ich stehen, und Schmerz und Kummer überwältigten mich. Es
gab einmal eine Zeit, vor der Sintflut, da hatte dieses Geschäft
meinen Eltern gehört. Heute war es ein Photoladen. Auf den
Borden standen keine Schuhe mehr, sondern Photographien
von Wehrmachtssoldaten, die den Arm um Frau und Kind
gelegt hatten. Vor der Eingangstür stiegen in mir wieder die
glücklichen Kindermomente hoch, als ich übermütig und laut
in das Ladeninnere stürmte und einen Groschen verlangte, um
mir eine Tüte Eis zu kaufen. War der Laden vol er Kundschaft,
tadelte mein Vater mich. Ungeduldig wartete ich, bis er et-
was Zeit fand. Sein Lächeln und das gewünschte Geldstück
machten dann alles wieder gut.
Aber ich entsann mich auch eines betrüblichen Vorfalls.
Mein Vater hatte mich eines Tages mit einer Geldsumme zu
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meiner Mutter geschickt, die mit diesem Betrag die für unsere
Heizung notwendige Kohlenlieferung bezahlen wollte. Aber
just an diesem Tag hatte Hans Meiners, mein bester Freund,
Geburtstag. Folglich beschloß ich in meiner Naivität, ihm zum
Zeichen meiner Anhänglichkeit ein Geschenk zu kaufen. Ich
ging in das größte Spielwarengeschäft der Stadt, zu Spinzig am
Marktplatz. Für fünf Reichsmark erstand ich das Model eines
berühmten Schiffes. Die Verkäuferin wollte den achtjährigen
Kunden zuerst nicht ernst nehmen und forderte mich auf,
mit meiner Mutter wiederzukommen. Aber dickköpfig wie
ich war, gelang es mir, sie zu überreden, und ich erhielt, was
ich wollte. Stolz trug ich das schöne Geburtstagspräsent zu
Hans und überreichte es ihm mit herzlichen Glückwünschen.
Seine Mutter runzelte die Stirn. Sehr zufrieden mit mir hüpfte
ich nach Hause und händigte meiner Mutter den Rest des
Geldes aus. Ohne den Geschenkkauf zu erwähnen, ging ich,
als wäre nichts gewesen, anderen Dingen nach.
Plötzlich stand Frau Meiners in der Wohnung und flüsterte,
etwas peinlich berührt, mit meiner Mutter. Mir schwante nichts
Gutes. Meine Mutter wandte sich mir mit strengem Gesicht
zu und wollte wissen, ob das mit dem Geschenk stimme.
Stotternd und rot angelaufen gab ich es zu. Mama zog sich
an, und zu dritt begaben wir uns zu den Meiners, in deren
Wohnzimmer das tol e Geburtstagsgeschenk stand. Ich mußte
das Model boot in das Spielwarengeschäft zurücktragen. Frau
Spinzig empfing uns liebenswürdig. Ihr Kopfschütteln sollte
wohl bedeuten: »Ich habe es ja gleich gewußt …« Beschämt
stel te ich das Segelschiff, den Stein des Anstoßes, vorsichtig auf
den Ladentisch und trennte mich niedergeschlagen davon. Ich
täuschte mich aber, als ich glaubte, die leidige Angelegenheit
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habe damit ihr Bewenden. Als mein Vater nach Ladenschluß
nach Hause kam und von meiner Missetat hörte, verabreichte
er mir eine denkwürdige Tracht Prügel.
Die Erinnerungen schlugen über mir zusammen. Ich dachte
an meine Eltern, ich dachte an Lodz. Dahin wollte ich.
Vor den Schaufenstern, die uns einst gehörten, verharrend,
fiel mir ein gewisser
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