Ich war Hitlerjunge Salomon
diesmal nicht im Stich lassen würde? Ich kann es nicht
erklären. In diesem entscheidenden Augenblick schien sich
alles versammelt zu haben, um den Felsbrocken ins Wanken
zu bringen, der sein Geheimnis nicht preisgab, und um mich
dazu zu bewegen, mein Innerstes zu offenbaren. »Nein, Frau
Latsch«, hörte ich mich flüstern, »ich bin kein Deutscher, ich
bin Jude …«
Ich hatte ganz ohne inneren Kampf geantwortet. Doch
kaum hatte ich das Wort ausgesprochen, war ich erschüttert
über das, was ich getan hatte. Nur mein zitternder Körper,
meine schlotternden Knie zeigten mir, daß ich lebte und atmete.
Von meinen eigenen Worten völlig benommen, murmelte ich:
»Bloß nicht zur Gestapo!«
Lenis Mutter stand auf, beugte sich über mich, küßte mich
auf die Stirn, beruhigte mich und versprach, mein Geheimnis
niemandem zu verraten. Ein einziger Augenblick menschlicher
Schwäche, des Versagens meiner wundervollen Verteidigungs-
und Überlebenstriebe hätte mich das Leben kosten können.
Doch wieder einmal wurde ich auf wundersame Weise ge-
schützt. Ich hatte das Gefühl, auf eine fremde Frau, eine Frau
von Edelmut zu treffen, die mir Verständnis entgegenbrachte.
Nach dem gerichtlich bestellten Vater nun eine Mutter für mei-
ne seelischen Nöte … Diese Situation drückte sich in kleinen
Aufmerksamkeiten aus, in gestopften Socken, in einem Stück
selbstgebackenem Kuchen. Dafür vertraute ich ihr rückhaltlos.
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Niemals befürchtete ich eine Denunziation von ihrer Seite.
Im Gegenteil, sie beschwor mich, um des Himmels willen,
mein Geheimnis ihrer Tochter Leni nicht zu enthüllen. Nicht
einmal die eigene Mutter war sich Lenis in diesem Punkt si-
cher. »Die Kinder sind heutzutage so ganz anders«, lautete ihr
einziger Kommentar. Als ich mich von dieser überraschenden
und gefährlichen Offenbarung etwas erholt hatte, wagte ich,
die unvermeidliche Frage zu stellen, woher ihr Interesse an
meiner Abstammung rühre. Es stellte sich heraus, daß die
lebenserfahrene, feinfühlige Frau verschiedenes merkwürdig
gefunden hatte. Ich hatte mich nämlich zweimal gedankenlos
in meinen kleinen Flunkereien verfangen, was meine Familie
betraf. Das eine Mal hatte ich erzählt, ich sei allein auf der
Welt, das andere Mal behauptete ich, meine Großeltern lebten
in Ostpreußen. Ich entsann mich nicht mehr, warum ich
dieses Detail erfunden und bei welcher Gelegenheit ich es
angeführt hatte. Doch meine Antwort überstieg bei weitem
ihr Vorstellungsvermögen. Sie ahnte zwar, daß ich nicht gut
Deutscher sein könne, daß ich aber Jude sei, wäre ihr im
Traum nicht eingefallen.
Hätten sich alle wie Heinz Kelzenberg und Maria Latsch
verhalten, wären Eichmann und Konsorten nur erbärmliche
Randerscheinungen gewesen.
Diese Beichte hatte mich ungemein erleichtert. Ich fühlte
mich weniger al ein und verlassen. Leni gestand ich die Wahr-
heit erst nach dem Krieg. Sie reagierte mit dem ihr eigenen
Humor: »Oh, da habe ich ja Rassenschande getrieben!«
Sie war tief bewegt, als sie erfuhr, daß ich an meine Mutter
im Ghetto von Lodz gedacht hatte, als ich ihr das Gedicht vor-
las. Ich bemerkte auch, daß das ganze Lehrgebäude des BDM
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in ihr zusammenstürzte, als sie gewahr wurde, beträchtliche
Zeit mit einem Juden verbracht zu haben, der sie achtete und
der ihr näherstand als ihre Gesinnungsgenossen, mit denen
sie befreundet war.
Während der ganzen Zeit in Braunschweig fühlte ich immer
wieder den Drang, meiner nahen Heimatstadt Peine einen
Besuch abzustatten. Ich hatte mich aber stets zu beherrschen
gewußt, hatte keine unnötigen Gefahren auf mich nehmen
wol en. Peine hatte ich erst vor sieben Jahren verlassen, jemand
hätte Sal y, den kleinen Juden, mühelos wiedererkennen können.
Ungeachtet dessen packte mich eines Sonntagsmorgens im
Sommer der Leichtsinn. Irgendein Teufel ritt mich, und ich
fand mich am Bahnhof von Peine wieder. In meiner Kindheit
war ich mit meinen Spielkameraden oft hierhergekommen, wir
stellten uns damals meist auf die Holzbrücke, die die Glei-
se überspannte, und warteten auf den nächsten Zug, dessen
Rauchschwaden uns einhüllten und voreinander verbargen.
Auch jetzt stellte ich mich auf die Brücke, nun aber umgab
mich nicht das fröhliche Gelächter meiner kleinen Freunde,
sondern die trostlose Einsamkeit der Il egalität und Verfolgung.
Natürlich durfte mich niemand wiedererkennen. Ich wol te
lediglich einen traurigen Blick
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