Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich war Hitlerjunge Salomon

Ich war Hitlerjunge Salomon

Titel: Ich war Hitlerjunge Salomon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sally Perel
Vom Netzwerk:
diesmal nicht im Stich lassen würde? Ich kann es nicht
    erklären. In diesem entscheidenden Augenblick schien sich
    alles versammelt zu haben, um den Felsbrocken ins Wanken
    zu bringen, der sein Geheimnis nicht preisgab, und um mich
    dazu zu bewegen, mein Innerstes zu offenbaren. »Nein, Frau
    Latsch«, hörte ich mich flüstern, »ich bin kein Deutscher, ich
    bin Jude …«
    Ich hatte ganz ohne inneren Kampf geantwortet. Doch
    kaum hatte ich das Wort ausgesprochen, war ich erschüttert
    über das, was ich getan hatte. Nur mein zitternder Körper,
    meine schlotternden Knie zeigten mir, daß ich lebte und atmete.
    Von meinen eigenen Worten völlig benommen, murmelte ich:
    »Bloß nicht zur Gestapo!«
    Lenis Mutter stand auf, beugte sich über mich, küßte mich
    auf die Stirn, beruhigte mich und versprach, mein Geheimnis
    niemandem zu verraten. Ein einziger Augenblick menschlicher
    Schwäche, des Versagens meiner wundervollen Verteidigungs-
    und Überlebenstriebe hätte mich das Leben kosten können.
    Doch wieder einmal wurde ich auf wundersame Weise ge-
    schützt. Ich hatte das Gefühl, auf eine fremde Frau, eine Frau
    von Edelmut zu treffen, die mir Verständnis entgegenbrachte.
    Nach dem gerichtlich bestellten Vater nun eine Mutter für mei-
    ne seelischen Nöte … Diese Situation drückte sich in kleinen
    Aufmerksamkeiten aus, in gestopften Socken, in einem Stück
    selbstgebackenem Kuchen. Dafür vertraute ich ihr rückhaltlos.
    141
    Niemals befürchtete ich eine Denunziation von ihrer Seite.
    Im Gegenteil, sie beschwor mich, um des Himmels willen,
    mein Geheimnis ihrer Tochter Leni nicht zu enthüllen. Nicht
    einmal die eigene Mutter war sich Lenis in diesem Punkt si-
    cher. »Die Kinder sind heutzutage so ganz anders«, lautete ihr
    einziger Kommentar. Als ich mich von dieser überraschenden
    und gefährlichen Offenbarung etwas erholt hatte, wagte ich,
    die unvermeidliche Frage zu stellen, woher ihr Interesse an
    meiner Abstammung rühre. Es stellte sich heraus, daß die
    lebenserfahrene, feinfühlige Frau verschiedenes merkwürdig
    gefunden hatte. Ich hatte mich nämlich zweimal gedankenlos
    in meinen kleinen Flunkereien verfangen, was meine Familie
    betraf. Das eine Mal hatte ich erzählt, ich sei allein auf der
    Welt, das andere Mal behauptete ich, meine Großeltern lebten
    in Ostpreußen. Ich entsann mich nicht mehr, warum ich
    dieses Detail erfunden und bei welcher Gelegenheit ich es
    angeführt hatte. Doch meine Antwort überstieg bei weitem
    ihr Vorstellungsvermögen. Sie ahnte zwar, daß ich nicht gut
    Deutscher sein könne, daß ich aber Jude sei, wäre ihr im
    Traum nicht eingefallen.
    Hätten sich alle wie Heinz Kelzenberg und Maria Latsch
    verhalten, wären Eichmann und Konsorten nur erbärmliche
    Randerscheinungen gewesen.
    Diese Beichte hatte mich ungemein erleichtert. Ich fühlte
    mich weniger al ein und verlassen. Leni gestand ich die Wahr-
    heit erst nach dem Krieg. Sie reagierte mit dem ihr eigenen
    Humor: »Oh, da habe ich ja Rassenschande getrieben!«
    Sie war tief bewegt, als sie erfuhr, daß ich an meine Mutter
    im Ghetto von Lodz gedacht hatte, als ich ihr das Gedicht vor-
    las. Ich bemerkte auch, daß das ganze Lehrgebäude des BDM
    142
    in ihr zusammenstürzte, als sie gewahr wurde, beträchtliche
    Zeit mit einem Juden verbracht zu haben, der sie achtete und
    der ihr näherstand als ihre Gesinnungsgenossen, mit denen
    sie befreundet war.
    Während der ganzen Zeit in Braunschweig fühlte ich immer
    wieder den Drang, meiner nahen Heimatstadt Peine einen
    Besuch abzustatten. Ich hatte mich aber stets zu beherrschen
    gewußt, hatte keine unnötigen Gefahren auf mich nehmen
    wol en. Peine hatte ich erst vor sieben Jahren verlassen, jemand
    hätte Sal y, den kleinen Juden, mühelos wiedererkennen können.
    Ungeachtet dessen packte mich eines Sonntagsmorgens im
    Sommer der Leichtsinn. Irgendein Teufel ritt mich, und ich
    fand mich am Bahnhof von Peine wieder. In meiner Kindheit
    war ich mit meinen Spielkameraden oft hierhergekommen, wir
    stellten uns damals meist auf die Holzbrücke, die die Glei-
    se überspannte, und warteten auf den nächsten Zug, dessen
    Rauchschwaden uns einhüllten und voreinander verbargen.
    Auch jetzt stellte ich mich auf die Brücke, nun aber umgab
    mich nicht das fröhliche Gelächter meiner kleinen Freunde,
    sondern die trostlose Einsamkeit der Il egalität und Verfolgung.
    Natürlich durfte mich niemand wiedererkennen. Ich wol te
    lediglich einen traurigen Blick

Weitere Kostenlose Bücher